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und es ist Hochverrath an dem eignen Beruf, sie in der Ausübung dieser Rechte und Befugnisse zu hemmen. Oder meinen die Gewaltigen, sie könnten und dürften den Pulsschlag der Kulturgeschichte regeln, wie den Umlauf des Geldes? Sie mögen sich solchem Wahne hingeben, aber sie thun es auf ihre eigene Verantwortung. Die Zeit wird sie belehren, wie arg ihr Bahn gewesen, und ihre Ernte wird der Aussaat gleichen.

„La Turquie: – voila un cadavre! war das kecke Ministerwort Sebastiani’s vor 10 Jahren. Ihn Lügen zu strafen, standen seitdem die Fürsten Europa’s zusammen. Soll etwa das Reich Osmans das Räthsel der Sphynx erneuern? soll aus seiner leblosen Gegenwart seine glorreiche Vergangenheit neu auferstehen? Wie würden die restaurirenden Könige zusammenschrecken, wenn also geschähe? Nein, so Großes wollen sie nicht! Hülflos haben sie das greise Sultanat ausgesetzt, hülflos seinen Schicksalen preis gegeben, und sie halten den Verderber nur noch ab, damit die Agonie sich verlängere. Scheint es ihnen doch recht zu gefallen, den Türkenstaat in Ohnmacht zu sehen, umringt von Schrecken und Gefahren, die von allen Seiten auf ihn eingedrungen sind. Die Christenmächte scheint dieses Marterleben des altersschwachen Erbfeindes zu freuen, über den die Angst so Herr geworden ist, wie einst der Schrecken vor ihm über sie selbst Herr war. Ernst ist’s ihnen gewiß nicht damit, neue Formen für ihn auszusinnen und sie wie künstliche Blätter dem welken Gewächse aufzusetzen, daß sein Wachsthum sich neu belebe; sie wollen nur seine letzten Lebenstriebe darin auffangen, sie nach ihren bestimmten Ansichten umzubilden, damit, wenn die Stunde reif ist, wo sie die große türkische Erbschaft, ohne Codizill und Testament, theilen werden, sie solche faßlicher vorfinden. Aber diese herzlose, künstliche Berechnung hebt sich wohl von selbst auf, wenn der Herr seine Zeit ersehen hat, und leicht könnte es dann kommen, daß Völker theilten, während die Könige noch die Loose mischten. Es wäre in der That der Fürsten-Curatel Meisterstück, wenn es dieser gelänge, an ihre vielgliederige Kette der Causalität die Zukunft des byzantinischen Orients zu fesseln, der jetzt, wie ein Bleigewicht, an den Sohlen Europa’s hängt.

„Es gibt –“ mit den Worten eines Andern zu reden – „drei verhängnißvolle Stätten auf der Erbe, drei Weltringe, an die sich die Schicksals-Fäden des menschlichen Geschlechts hängen: am Jordan, an der Tiber, am Bosporus. Fast so lange als unser Geschlecht Geschichte macht, war es dem magischen Schimmer der drei ewigen Städte unterthan: Jerusalem ist die Wiege, Rom das Sinnbild des weltbeseligenden, universellen Christenthums, sein Gegensatz ist Konstantinopel mit dem erstarrten Morgenland.“ Aber einen ureinsäßigen, jetzt noch lebendigen, mit der Urbs aeterna gleich unsterblichen, unaustilgbaren Reichsgenius von Byzanz, als zweites Element der christlichen Welt, kann ich doch nicht erkennen. Mag es gleich zugestanden werden, daß das ganze faule Gezimmer der osmanischen Monarchie, die Eintheilung der Provinzen, die Hierarchie des öffentlichen Dienstes, die Art der Aemter, die Formen der Verwaltung und alle die Gräuel und Produkte