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CCCCIII. Der Bosporus.




Aus den Gegensätzen quillt das Leben, der Tod gebiert die Ewigkeit, der Widerstand die Bewegung. Auch für die Bewegungen der Geschichte stellen sich zwei große Gegensätze als Hauptelemente dar: – die Staaten, welche wachsen, und jene, welche welken. In jenen ist selbstbewußte Kraft, Ausdehnungstrieb, Zukunft: in diesen Schwäche, Erhaltungspein, Hoffnungslosigkeit; dort herrscht freier Lebenstrieb: hier Uebergang zur Erstarrung; dort ist nichts stabil, als die Veränderlichkeit; – Neugeburt ist überall und Wechsel allenthalben: hier strebt Alles zur Beharrlichkeit im Alten hin, zur Verknöcherung, Verstockung; – dort ist Licht in Wissenschaft, Kirche und Staat: hier Lichtscheu und Dunkelheit, Tyrannei statt Regiment, Aberglaube statt Religion.

Schreiten die Begebenheiten ruhig und langsam fort, dann ist die Wechselwirkung dieser Gegensätze mild und ohne Drang. Der welkende Staat schrumpft in dem Maße ein, als der wachsende sich zu ihm ausdehnt, und um den Sterbenden rankt das junge frische Leben schon, ehe ihn der Tod erlöst. Die Metamorphose geht still und leise vorüber. Aber in den Zeiten großer Umbildungen tritt die Schärfe des Widerspruchs grell in den Tag hinaus und statt des ruhigen Dabinsterbens sehen wir Agonie oder gewaltsame Tödtung. Unsere Zeit aber hat die wunderliche Ungereimtheit an sich, daß, während sie selbst einer großen Epoche des Umbildens und Umgestaltens aller menschlichen Verhältnisse notorisch angehört, dennoch ihre Faktoren mit einem fast fanatischen Eifer bemüht sind, Altes zu stützen und Absterbendes am Leben zu erhalten. So ist und das seltsame Schauspiel gegeben, daß, während die lebenskräftigsten unter den Staaten ihre Wurzeln immer weiter und tiefer in die Erde schlagen, während ihre Zweige, wie die der Eichen, in die Lüfte wachsen und sich immer breiter entfalten, während ihr Gewächs grünt, blüht, Früchte trägt und Saamen um sich streut, und sich fortpflanzt, als Colonien, in allen Zonen: doch ihre Lenker zusammentreten, um die Thorheit aller Thorheiten zu begehen, nämlich todte Massen neu zu beleben, und jenen Staaten, deren Rolle ausgespielt, deren Tag vergangen, deren Geschichtsblatt voll geschrieben ist, ihren Bestand gewaltsam zu verlängern. Das ist ein krankes Streben, das Hülfe bei den Todten sucht, und das ist ein unvernünftiges Streben, welches die eigene Kraft an die fremde Hinfälligkeit vergeudet, und Der thut Unrecht, der die Ansprüche der frischen, lebendigen Gegenwart einer rechtlosen Vergangenheit zum Opfer bringt. Wo die Dynastien und Staaten abgelebt sind, da sind ihre Rechte und Befugnisse an den Völkern haften geblieben,