Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band | |
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Einfache Landhütten verstecken sich unter dem Gewölbe schattiger Bäume, durch die fetten Wiesengründe schlängeln sich klare Bäche. Dort, wo der Weg durch ein Wiesenthal von Kappel hinweg auf eine Anhöhe führt, ist plötzlich die reizendste Aussicht aufgethan. In einem Thalgelände, schon wie das Tempe der Alten, mit Fruchtbäumen bepflanzt, rinnt die Lorez, ein aus dem nahen See abfließender Bach, bald schmal, bald zu einem Weiher sich ausbreitend, in dessen klarer Fluth sich überhängende Weiden oder hohe Eschen spiegeln. In einem dichten Kranze von Obstbäumen verbergen sich die Wohnungen des Städtchens Baar und aus einem Fruchthain auf der Höhe darüber ragt der schlanke Kirchthurm. Zug blickt aus der Ferne an seinem See gelagert, in dem sich der Rigi beschaut. Aber noch schöner als dieser Ausblick zur Linken ist jener zur Rechten – über das Thal des Vierwaldtstädtersees hin (vergl. den Stahlstich). Links steigen die Wälder bis zum Wasserspiegel herab; rechts streckt das Ufer seine Zungen tief in die Fluth hinein, mit Burgtrümmern und Flecken oder ländlichen Wohnungen besetzt und mit Obstpflanzungen bekleidet, und im Hintergrunde vor der sich weit, wie ein Meer öffnenden Wasserfläche steigt der steile Pilatus auf mit seinem Zackengipfel, der, von dieser Seite betrachtet, einem Dome gleicht, dessen Gewölbe eingebrochen ist. Gewöhnlich ist er nicht klar, sondern ein graudunkler, melancholischer Wolkenvorhang umhüllt ihn. Aber auch dann ist der Anblick herrlich. Die große, graue Masse malt sich in unbestimmten Konturen auf dem ruhigen Gewässer, und die zu beiden Seiten der Ufer sich hinan thürmenden Berge mit dem Himmelsgewölbe darüber verwandeln die Landschaft zu einem Tempel der Allmacht, in welchem deutscher Heldenmuth und deutsche Freiheit Hymnen sangen schon vor fünf Jahrhunderten.
Der Pilatus wird wegen seiner Steilheit von den Reisenden wenig bestiegen; wer aber die Anstrengung nicht scheut, wird reichlich belohnt. Selbst Dem, welcher die Rigifahrt gemacht hat, wird die Aussicht vom Pilatus eine Menge neuer Schönheiten zeigen, die er dort nicht kennen lernen konnte. Man wähle aber einen recht hellen heitern Tag. Vom Gipfel sieht man südwarts das Panorama der Schweizer und Tyroler Alpen, ein Halbkreis von unzählichen Berghäuptern aller Formen, viele wunderbar erleuchtet von dem Wiederglanze der Gletscher und Firnen. Gegen Norden verbreitet sich die Aussicht weit über die Grenze Helvetiens. Man überblickt ganz oder theilweise neun Schweizer-Cantone und einen großen Theil von Schwaben und von Tyrol. In der weiten Ferne erscheinen bedeutende Berge als bloße Hügel, und Wälder wie niedriges Gesträuch; Seen schrumpfen zu Teichen zusammen und große Flüsse ziehen als schmale silberne Streifen durch die Länder. Der Städte, Flecken, Dörfer und Schlösser sind unzählige, und die lachende, ferne Landschaft wird um so reizender durch den Contrast der nächsten Umgebung: denn finsterer Hochwald deckt des Pilatus Seiten und Einsamkeit, Verlassenheit und Oede herrschen auf seinem kahlen Haupte.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1842, Seite 120. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_9._Band_1842.djvu/128&oldid=- (Version vom 1.1.2025)