Seite:Meyers Universum 9. Band 1842.djvu/116

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.

kunstvolle Schnitzwerk in Holz und Stein überall, die vielen Grabmonumente an den Wänden geben ein schönes Ensemble, das einen tiefen, dauernden Eindruck hervorbringt. Ein etwas späterer Anbau ist die Grabkapelle, welche sich Kardinal Wolsey, der berühmte Reichskanzler, errichtete; in ihr modern die Leichen der königlichen Familie seit drei Jahrhunderten. Ein Gebäude gegenüber wird, zufolge einer uralten königlichen Stiftung, von verdienten, invaliden Offizieren der britischen Heere – den sogenannten „armen Rittern von Windsor“ – bewohnt. Auch übersieht hier der Beschauer den Coloß des „runden Thurms,“ am besten. Er ist einer der ältesten Theile der Burg, wo mehre Könige und viele Großen des Reichs eingekerkert saßen.

Die ganze Nordseite des innern Burghofs fassen die königlichen Wohnzimmer und die Säle für Hoffeierlichkeiten ein. Letztere sind unter der Führung eines der Kastellandiener jedem anständigen Fremden zugänglich. Hier ist die höchste verschwenderische Pracht des Königthums zur Schau ausgestellt; was jedoch mehr anzieht, als alles Gold und Silber, sind die edeln Werke der Kunst, die alle Wände überdecken. Alle Schulen sind hier durch die besten Meister und ihre bedeutendsten Werke repräsentirt: am reichsten aber die deutsche durch Holbein und die niederländische durch Vandyck.

Aus den Staatszimmern wird man zu einer der Schloßterrassen geleitet. Welche Ueberraschung! Der Ausblick in die schönste Landschaft läßt alle gesehene Pracht von Menschenhand augenblicklich vergessen. Zu den Füßen windet sich die Themse, bedeckt mit Barken und Kähnen, durch die reichen Gauen, welche mit Dörfern, Landhäusern und Weilern bestreut sind, und ein weiter, bewaldeter Hügelkreis mit den prächtigen Sitzen des englischen Adels schaut auf sie herab. Hier sieht man auch das ehrwürdige Eton, die berühmteste Erziehungsanstalt Englands für classische Bildung, eine Stiftung Heinrichs VIII. und die Pflanzschule der größten Männer Britanniens. Die Terrasse selbst umschließt den königlichen Privatgarten, den entzückendsten aller Blumengärten, aus welchem die Treibhäuser zur unmittelbaren Verbindung mit der königlichen Wohnung führen. Hier sind die seltensten Gewächse der heißern Zonen versammelt, und das königliche Paar kann in Hainen von Palmen und unter den Gewürzbäumen Ceylons und der Molucken wandeln.

Eine Gartenwelt voll reizender Mannichfaltigkeit umgibt Windsor-Castle meilenweit und hat ihres Gleichen nicht in England. Der Windsor-Park ist über 16,000 Morgen groß; er umschließt Berge und Thäler, Seen und Wälder, Flecken, Dörfer, Meiereien, Menagerien, Aviarien, botanische Gärten und alle Scenerie einer bald lachenden, bald ernsten, bald wild-romantischen Landschaft. Bequeme Fahrwege führen zu den interessantesten Punkten, deren vollständige Beschauung Wochen kostet. Die Prachtpartie ist Virginia-Water, ein künstlich ausgegrabener, großer See, mit mannichfaltig-staffirter Umgebung, auf dem sich bei Hoffesten eine kleine Flotte prächtiger Schiffchen und Gondeln schaukelt. Gegenstück ist eine kleine Cottage in einem engen Thalgrund,