Seite:Meyers Universum 8. Band 1841.djvu/98

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.

Der Caucasus, als Sitz derselben, trug seinen heutigen Namen schon in urältester Zeit. Er ist jene Gebirgsmauer zwischen zwei Welttheilen, die am Westrand des schwarzen Meeres bei Anapa als ein schwacher Bergrücken beginnt, sich ausbreitet, bis fast 17,000 Fuß hoch emporgipfelt, weit über die Linie des ewigen Eises hinaus, und dann sich allmählig wieder abdacht. Seine Länge von West nach Ost beträgt 120 geographische Meilen, seine Breite 10 bis 30 Meilen. Nördlich fällt er steil in die Steppen der großen und kleinen Kabardei herab; südlich in die reizenden Hochthäler des Rioni und Kur. Nur durch eine schwache und niedrige Kette steht er mit den Gebirgen Hocharmeniens in Verbindung. Kein anderes Gebirge trägt einen so rauhen, wilden Charakter. Mit den Alpen ist der Caucasus gar nicht zu vergleichen. Seine höhern Regionen sind wasserarm, und nur auf einigen Punkten ist die Gletscherbildung entwickelt, wodurch noch Leben auf der Marke des ewigen Eises keimt. Sonst überall ist die Natur todt, nichts sieht man als nacktes Gestein, zerrissen und zerklüftet, ohne Vegetation. Erst in der Mittelregion, in der Höhe von 6000 bis 9000 Fuß, werden die tiefeingeschnittenen Thäler wasserreicher und erfreut das üppige Grün der Gräser und Kräuter. Tiefer hinab schmücken die herrlichsten Matten und die schönsten Wälder die Seiten der Berge, und die Thäler stellen sich als liebliche Gründe dem Auge dar. Aber diese untere Region wird nur gelegentlich, nur dann, wo es mit Sicherheit geschehen kann, von den Hirten der Tscherkessen mit den Heerden besucht. Die eigentliche Wohnung der Caucasier ist die mittlere Region. Von Geschlecht zu Geschlecht an Entbehrungen gewöhnt, bebauen diese gestählten Menschen jedes kulturfähige Fleckchen bis zur Schneelinie hinauf, und oft mit Gefahr ihres Lebens. Ihre Dörfer stehen meistens in den Thalschluchten und in solchen Lagen, welche den Zugang schwer und die Vertheidigung leicht machen. Ueber die Zahl der Gebirgs-Bevölkerung hat man viel gestritten. Die der Kabardei und Achbasien eingeschlossen, betrug sie vor dem Unabhängigkeitskampfe anderthalb Millionen. Wenn man weiß, daß in dem nun zehnjährigen ununterbrochenen Kriege mit dem mächtigsten Reiche der Erde über 200,000 Russen gefallen sind, und wenn man veranschlagt, daß Hunger und Elend wohl eben so sehr als das russische Blei die Reihen der Bergvölker dezimirten, so wird man die sich noch jetzt gegen Rußland behauptende Gesammtbevölkerung auf höchstens eine Million veranschlagen dürfen, von denen etwa 100,000 fähig sind, die Waffen zu tragen. – Das ganze Volk spaltet sich, wie ehedem die Schotten im Hochlande, in 10 Clans, deren Namen allein schon die Frage: ob die Tscherkessen wirklich die Ureinwohner des Caucasus sind, oder spätere Eindringlinge, zur Ruhe bringen: denn schon Strabo und Procopius erwähnen der Abaskoi oder Hencochoi und Bruchoi, welche, den angehängten griechischen Plural wegnehmend, noch heute so heißen. Alle diese Stämme reden eine Stammsprache in verschiedenen Dialekten, welche von den Sprachen der umwohnenden Völker, der Osseten, Grusier und Tataren, gänzlich verschieden ist. Das Tscherkessische, vielleicht das älteste und unverfälschteste Idiom der Erde, trägt den Stempel des Volkes.

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Achter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1841, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_8._Band_1841.djvu/98&oldid=- (Version vom 4.12.2024)