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kein Pfennig in Europa! So steht’s mit der Gerechtigkeit unserer Sympathien. Zeit und Umstände regen sie auf, oder ersticken sie, und die Mode nimmt sie in Schutz, oder ignorirt sie, oder läßt sie fallen.

Sey getrost, lieber Leser, ich predige dir keinen Kreuzzug. Folge mir immerhin in die Thäler des Caucasus, zwischen dessen Mauern ein dem Tode und der Vertilgung grausam geweihetes Volk, ohne irdische Hoffnung, aber mit unverzagtem Herzen hinaufblickt zum Himmelszelte, und wo von den Lebenden nur Die noch beneidet wer den, welche ihnen vorausgegangen sind im Vollbringen der einen heiligen Pflicht. Folge mir an das offene Grab des Heldenvolks, und willst Du eine Blume hinein werfen – thue es, und kehre Dich nicht an die Spötter, welche im Panzer der Gleichgültigkeit sicher sind vor allem Weh des Gefühls. –


Es giebt ein Land im fernen Osten, von dem schon Vater Herodot Wunderdinge erzählt, ein Land, auf dem der Schleier der Mythe seit Jahrtausenden ruht. In diesem Lande war der Schauplatz für die Thaten der Halbgötter der Erde, jene Thaten, welche die Dichter begeistern von Geschlecht zu Geschlecht. Von des Caucasus eisigem Gipfel stieg zu den Göttern hinan Prometheus und stahl das Feuer, und an dem caucasischem Felsen geschmiedet erlitt er die Rache der Himmlischen. Auf der caucasischen Küste stand das heilige Colchis, und Jason führte seine Heldenschaar dorthin, das goldne Vließ zu holen. An Tscherkessiens unwirthlichem Gestade irrte Odysseus, in Colchis lebte Medea, die Gefürchtete, trieb die Zauberin Circe unheimliche Werke. Auf der Halbinsel Taman sahen Homer und seine Zeit den Kocytus und Acheron, „die ersten Flüsse, welche zur Unterwelt führten und das Reich Neptuns begrenzten.“ Als die älteste aller Völkerburgen nennt die Sage den Caucasus, und in der von ihr geschützten und umfaßten südlichen Landschaft äußert sich die Natur in solcher Ueppigkeit, daß man die biblische Bezeichnung des Paradieses, „wo Milch und Honig fließt,“ noch heute auf sie anwenden kann und es nicht Wunder nehmen darf, daß alte Geschichten das Paradies selbst hier finden lassen. Aber aus diesem Paradiese hat der Engel mit dem Zweiflammenschwerte, – Krieg und Pesth – seit lange her die Menschen vertrieben: verwaist sind die fruchtreichen, prangenden Ebenen, herrenlos und öde liegen sie da, und nur im rauhen Gebirg haust seit undenklicher Zeit der starke Mensch mit der Genossin Freiheit, gleich unzugänglich der Kette, wie der Kultur. Während die Ebenen zu seinen Füßen die Herrschaft unzählige Mal gewechselt, blieb der Caucasier in vollem Genusse dessen, was er höher achtete, als alle andern Güter der Erde, und wofür er von jeher das nach der Freiheit ihm Liebste, das Leben, hinzugeben bereit war. Der Caucasier – Er verzichtete freiwillig auf alles andere um des Einen willen, dieß Eine war sein Reichthum und sein Erbe von den Erstlingstagen der historischen Sage bis auf den heutigen Tag. Unter solchen Umständen vermochte auch nie die Cultur Wurzel zu schlagen, und man begreift die Rohheit dieser Völkerschaften voller Barbarei und Heroismus.

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Achter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1841, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_8._Band_1841.djvu/97&oldid=- (Version vom 4.12.2024)