Seite:Meyers Universum 8. Band 1841.djvu/71

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
CCCXXXXII. Die Havannah.




Der Europäer, der, aus der nordischen Heimath kommend, in den westindischen Gewässern zum erstenmale Amerika erblickt, wird tief ergriffen. Aufgethan sind vor ihm die Pforten einer neuen Welt, und, wie Einer, der, eingetreten in die Propyläen eines Tempels für fremden Glauben, mit wortlosem Erstaunen neue Symbole der Gottheit sieht, sieht er sich umgeben mit den Zeichen einer andern Schöpfung. Ehe noch die Inselgestade mit ihren Vorgebirgen und Landspitzen, und ihren blauen Höhen und rauchenden Wäldern am Horizonte schimmern, weht ihn der Hauch eines fremden, jugendlichen Lebens an. Er denkt an Columbus und fühlt nach die Seligkeit des Entdeckers. So dunkelblau und glänzend, so wolkenlos und heiter wölbt der Himmel sich nur an den höchsten Festtagen der Natur über eine europäische Landschaft, und eine so milde, belebende, mit Wohlgerüchen angefüllte Luft wie der Athem des westindischen Landes, haucht niemals das Ufer der Heimath. Dazu das tropische Meer, durchsichtig bis zum Grunde und lichtblau wie Sapphir, spiegelglatt, oder mit pulsartiger, sanfter Wellenbewegung, von tausend Geschöpfen belebt, die das Auge des Beobachters fortwährend beschäftigen und unterhalten. Welcher Kontrast dieses Meeres mit dem öden, ernsten nördlichen Ozean, der unter dem Schatten grauen Gewölks seine Wogen dahinwälzt! Schneidender noch wird der Gegensatz, vergleicht man das Land beider Zonen. Die ärmsten westindischen Küsten sind blühende Gärten, verglichen mit dem sandigen Strande oder den unwirthlichen Felsufern des europäischen Nords.

Der Weg, den die Schiffe aus Europa nach der Havannah nehmen, geht durch das Inselmeer der Lucayen. So lang die Fahrt auch ist, so wird sie doch nie langweilig; denn es tritt mit jeder Stunde ein anderes Eiland, mit jeder Minute eine andere Scene vor’s Auge. Bald erscheint ein Cap, bald öffnet sich eine weite Bucht, bald winken Dörfer und Plantagen von den lachenden Küsten und steigern das Verlangen des an Bord gefangenen Reisenden nach Land und Freiheit zur unbezwinglichen Sehnsucht. Auf die Lucayen folgt die tausendinselige Bahamagruppe. Ist sie durchsegelt, so thut noch einmal der Ozean sich auf. Nur zuweilen, am fernsten südlichen Horizonte, erscheint ein hohes Vorgebirge wie ein schimmerndes Wölkchen, das hervorkommt, eine Zeitlang sichtbar bleibt und wieder verschwindet. Es ist die Küste von Cuba. Auf lange Zeit bleibt sie ferne; erst im Meridian von der Havannah – der Reise Ziel – ändert das Schiff seinen Lauf und steuert gerade auf das Land zu. Die Formen

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Achter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1841, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_8._Band_1841.djvu/71&oldid=- (Version vom 1.12.2024)