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CCCLXXIII. Moti Musjed in Agra.




„Es war im Jahre 610 nach unserer Zeitrechnung, als nach dem Rathschlusse Gottes ein Funke seines Geistes niederfuhr auf die arabische Wüste und die Seele eines Menschen erleuchtete. Mohammed fühlte sich berufen zum Propheten des Höchsten, berufen, das Gesetz, welches Moses und Christus gegeben hatten, zu vollenden. Zuerst glaubten ihm die Seinen, dann sammelten sich Anhänger, dann verehrte ihn das Volk und folgte nach; die Widerwärtigen aber wurden vernichtet. Bald jauchzte ganz Arabien seinem Propheten entgegen. Mohammeds Feuer entbrannte die Nation der Wüste; jeder Gläubige fühlte sich berufen, Gläubige zu machen, und wie ein Wettersturm brausten Hunderttausende durch die Thore des Landes. Die erschrockenen andern Volker sanken dem Schwerte, oder empfingen den Koran, und kaum waren 100 Jahre vergangen, so herrschte der Islam in drei Welttheilen, von den Säulen des Herkules bis zum Ganges.“[1]

Die neue Religion brachte eine neue Weise der Gottesverehrung, und in deren eigenthümlichem Geiste schuf die Kunst neue Gestalten, den Höchsten zu feiern und zu verkünden. Die Männer der Wüste aber, denen das Loos der Herrschaft über eine halbe Welt zugefallen war, waren roh und ohne eigne Kunstbildung. Sie mußten daher die Kunstformen, welche sich in andern Ländern zu jener Zeit vorzugsweise einer Gültigkeit erfreuten, adoptiren, wobei sie jedoch nicht verfehlten, dieselben eigenthümlich auszuprägen. Jene Kunstformen nun waren die der späten, der christlichen Römerzeit – und die Araber waren für diese um so empfänglicher, da Mohammed’s Lehre sich der christlichen unter allen Religionen am meisten näherte, und Christus selbst dem großen Propheten als ein Prophet gegolten hatte. Mit der urchristlichen, der spätrömischen Kunst verband sich das arabische Element, und aus dieser Vermischung wuchsen nun jene Kunstbestrebungen des Islams hervor, welche, allmählich gepflegt, geläutert und veredelt, zu bedeutsamen Erscheinungen führten, obschon die Kraft, die sie geschaffen hat, in Fesseln lag. Der Islam duldet nämlich keine Bilder; er verdammt jedes Streben nach Hervorbringung des Bildlichen als ein sündiges, vermessenes Nachäffenwollen des Schöpfers aller Dinge. Daher


  1. Kugler, die Geschichte der Kunst.
Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Achter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1841, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_8._Band_1841.djvu/219&oldid=- (Version vom 13.12.2024)