Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Achter Band | |
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Solche Gewißheit eines stufenweisen Besserwerdens, welche über alle Zweifel erhaben ist, stille die Wogen empörten Gefühls, wenn dem Blicke Scenen begegnen, die und die Werke des Betrugs und der Verdummung an ganzen Völkern zeigen.
Zu einer solchen Scene führt uns das heutige Bild. Der Katarakt bei Puppanassum im Carnatik (2 Stunden von Tinevelly), ist der herrlichste in ganz Indien. Hundert und fünfzig Fuß hoch stürzt sich die gewaltige Wassermasse über die Felsen zum Abgrund. Was hat aber der Mensch aus diesem erhabenen Werke Gottes gemacht? Einen Tempel des Aberglaubens! Sicher schicken die schlauen Priester die Schaaren der Wallfahrer – nicht um die Herrlichkeit des Schöpfers in seinem Werke zu erkennen und zu ihm zu beten, sondern um sich vor ekelhaften Fratzen niederzuwerfen, welche lästernde Hände jenem Gotteswerke in’s Antlitz gemeißelt haben. Auch mancher christliche Wanderer zu den Muttergottesbildern in den Alpen denkt wohl nicht daran, den Herrn in seiner wunderschönen Bergwelt zu schauen, damit das Herz ihm aufgehe und er sich erwärme am Anblick der Gletscher und Schneefirnen. Er denkt vielmehr an Vergebung seiner Sünden! Ablaß und Absolution sucht hier auch der Hindu. Sein Priester lügt ihm vor: Bramah selbst spende an diesem Orte so allbarmherzig seine Gnade, daß hundert Menschengeschlechter in einem Tage von der Angst und Pein des Gewissens erlöst wären, wenn sie herkämen: – Denn seht, sagt er, jeder Tropfen dieser herabdonnernden Wassermasse, jedes Schaumbläschen hat die Kraft, die Menschen rein zu waschen von allem Schmutz der Seele. Einmal rein geworden, bleibt der Gläubige rein bis an’s Grab, und wenn er sich im Kothe der Verworfenheit und Schlechtigkeit alle Tage wälzte. – An den feierlichen Ablaßtagen drängen sich bei diesem geschändeten Werke Gottes viele Zehntausende zusammen, und eine Menge Priester sind gegenwärtig, welche die Opfer in Empfang nehmen, die man ihnen reichlich spendet. Auch außer der üblichen Wallfahrtszeit sieht man die fratzenhaften Gnadenbilder nie verlassen; man findet daselbst jeder Zeit Betende und Büßende aus den fernsten Theilen Indiens.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Achter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1841, Seite 204. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_8._Band_1841.djvu/212&oldid=- (Version vom 13.12.2024)