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Die Lage von Kertsch ist äußerst reizend. Auf der einen Seite ist der Canal, durch welchen das asow’sche Meer seine Fluthen dem Euxinus zuwälzt; auf der andern ein Amphitheater von Bergen, deren zunächst gelegene Höhen die Sommerwohnungen und Gärten der zahlreichen russischen Beamten schmücken. Ein zierlicher Tempel krönt die Stelle, wo die prächtige Residenz der bosporanischen Könige stand, und ein zweiter, noch schönerer Bau steht auf einer hervorspringenden Terrasse. Er ist zu einem Museum für Alterthümer bestimmt, und ward für Rechnung des Kaisers aufgeführt. Nur Wälder fehlen der Landschaft. Die Berge sind kahl, und der Holzmangel ist einer der fühlbarsten für die Bewohner von Kertsch, welche ihren Feuerungsbedarf 15 Meilen weit herholen müssen.

Die Ufer des Bosporus waren von jeher als sehr reiche Fundorte von altgriechischen Alterthümern in Ruf, und vom Schönsten, was die Museen Genua’s, Venedig’s etc. etc. besitzen, stammt Vieles daher. Die meisten Funde werden in den Gräbern gemacht, die man öffnet. Aufdeckungen von größern Bauwerken aus altgriechischer Zeit wurden bisher nur wenige versucht, und da sie nicht sogleich beträchtliche Beute gaben, niemals durchgeführt. Die Tumuli (antike Grabhügel) sind äußerst zahlreich um Kertsch, und schon sie können beweisen, wie reich einst das Land und dicht bevölkert es war und welch ein kunstsinniges Geschlecht daselbst gewohnt hat. In mehr als hundert der in den letzten 50 Jahren aufgebrochenen Gräbern fand man goldene Zierrathen, die schönsten Vasen und Statuen von Bronze und Silber und viele andere Skulpturen, fast alle aus der besten griechischen Kunstepoche. Seltsamer Weise wurde erst im Jahre 1830 jener größere Hügel geöffnet, den eine uralte Sage des Volks als das Grab des Mithridat bezeichnet hatte, und den die Tartaren Altyn Obo, den Berg voll Gold, nannten. Der Fund rechtfertigte den Namen. In dem weiten Grabgewölbe, das noch Spuren von der prachtvollsten Dekoration zeigte, fand man einen solchen Schatz von goldnem Schmuck vortrefflicher, griechischer Arbeit, und dazu eine solche Menge von vergoldeten Bronzevasen und Geräthen, daß man damit allein ein Cabinet bilden konnte. Vieles davon fand im Kertscher Museum den schicklichsten Bewahrungsort; leider aber wurde auch sehr Vieles nach Petersburg geschafft, und Manches fand einen Weg zu Antiquaren und Kunsthändlern, von wo es sich in alle Welt zerstreute.

Von den altgriechischen Bauwerken um Kertsch hat nur Weniges der Zerstörung durch Zeit und Menschenhand getrotzt. Keiner verläßt aber die Gegend, ohne den Sitz des Mithridat bestiegen zu haben, eine aus dem Fels gehauene große Steinbank auf dem Gipfel eines nahen Berges. Dort, wo das Auge in ungemessene Ferne schweift und zwei Meere zugleich übersieht, wo so oft der Herrscher saß, um eines Blicks sein Reich voller Fruchtbarkeit und prangendem Wohlstande mit stolzem Selbstgefühle zu überschauen – wollen auch wir ausruhen, und einen letzten Blick auf diese gefeierte Gegend werfen. Siehe dort den schmalen, schillernden Wasserstreifen!

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Achter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1841, Seite 199. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_8._Band_1841.djvu/207&oldid=- (Version vom 11.12.2024)