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Dimensionen aufweisen, als hier auf dem kleinen Raum von fünf oder sechs Quadratmeilen zusammengedrängt sind. Alles verkündigt, daß diese Gegend einst der Sitz hoher Kultur war und ein Ort, welcher vor Jahrtausenden eben so die Pilger in Menge versammelte, als jetzt die Tempel des Dschaggernaut oder die Ghauts am heiligen Strome in Hurduwar. Aber seit undenklicher Zeit ist hier Oede an die Stelle des Lebens getreten und die sonst so städtereiche Küste ist verlassen; man hört nicht mehr das gellende Glöckchen der Braminen, und obschon die Sage fortlebt und der Hindu immer noch die Gegend als heilig betrachtet, so hat sich doch die Verehrung andern Gegenden zugewendet.

Gerade die Schweigsamkeit trägt aber dazu bei, das Imposante und Pittoreske der verlassenen Gotteshäuser zu erhöhen. Die eine Gruppe führt den Namen „die sieben Pagoden;“ sie besteht indeß nur noch aus vier; die übrigen drei hat das sie umspühlende Meer schon längst verschlungen. Von der großen Stadt, welche nach braminischer Tradition hier gestanden haben soll, ist keine Spur weiter übrig. Die Tempel (von denen der Stahlstich den besterhaltenen darstellt) wurden aus Granitfels gehauen. Sie sind 40 bis 60 Fuß hoch und mit Basreliefs, meistens Darstellungen der Thaten des Wishnu, bedeckt. Styl und Ausführung der Figuren weisen die Blüthenperiode der altindischen Kunst nach. Die braminische Zeitrechnung setzt ihr Entstehen in das Jahr 3200 v. Chr. Sie wetteifern folglich in Alter mit den frühesten Bauwerken Oberägyptens, Nubiens und Aethiopiens, und was wir von den Denkmälern der Pelasger in Griechenland und Italien besitzen, gehört schon einer weit spätern Zeit an.

Der Tempel Inneres besteht aus einem hohen Saale, dessen Wände mit ähnlichen Darstellungen wie die Außenseiten geschmackvoll und reich verziert sind. Man muß erstaunen über die Vollendung dieser Skulpturen. Sie zeigen nicht nur unbegreifliche Geduld, sondern auch eine außerordentliche Fertigkeit im Polieren der sehr harten Steinmasse, welche dadurch einen marmorartigen Glanz bekommen hat.

In einer kleinen Entfernung von diesen Gebäuden ist eine lange Felswand von oben bis unten mit Bildwerken bedeckt. Viele der Reliefs stellen Sitten und Gewohnheiten der Hindu vor, und man macht die überraschende Bemerkung, daß sich bei diesem Urvolke seit fast fünf Jahrtausenden gar nichts geändert hat. Die lieblichen Gestalten der Hindufrauen sind eben so gekleidet, wie sie es noch jetzt sind; die Männer tragen die nämlichen Turbane, wie heute, und treiben ähnliche Beschäftigung und in derselben Stellung wie jetzt. Leider hört der räuberische Vandalismus der Antiquare und Sammler nicht auf, diese herrlichen Kunstreste von Jahr zu Jahr mehr zu verstümmeln.



Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Achter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1841, Seite 128. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_8._Band_1841.djvu/136&oldid=- (Version vom 14.12.2024)