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Gedanke, wohin? was wühlst du in der Schicksalskammer deines Ichs zur Langweil deiner Leser? Erhebe dich über die Scholle, die den Leib gefesselt hält, hoch über die Berge, unter denen die Gewitter des Lebens brausen; denn berichten sollst du von dem Eilande, der Wohnung des Weisen, Dichters und Sängers, welcher Völker begeistert hat seit zwei Jahrtausenden. Dein Thema ist – „Jona-Ossian!“ So ruft’s mir zu und ich erzähle.


Tief im atlantischen Ocean, an der scharf ausgezackten Westküste des schottischen Hochlands, liegen die Inseln der Hebriden, das ultima Thule der alten Erdbeschreiber, preisgegeben seit Jahrtausenden den schäumenden Wogen des größten Meeres und seinen unbeschränkten Stürmen. Zu dieser Gruppe gehören zwei kleine Eilande, hoch sich erhebend über ihre Schwestern, wie große Menschen über ihre unbekannten Brüder.

Diese beiden, erst im vorigen Jahrhunderte wieder zugänglich gewordenen, Felseninseln sind das Heiligthum der nordischen Sage und Mythe. Auf ihren Zinnen sang Ossian seine unsterblichen Lieder, lehrten die Druiden gnomische Weisheit, und indem sich die heiligsten Volkserinnerungen hier einigen, hat sich auch Sitte und Sprache des Volks, der alten Gälen, am reinsten hier erhalten. Jona, oder Icolmkill, das eine der beiden Eilande, war einst in der westlichen Welt die Sonne, welche Licht ausstreute auf die in der Finsterniß der Barbarei versunkenen Nachbarländer, und Religion, mit Wissenschaft im Bunde, ward hier hochgefeiert lange bevor der römische Adler an Schottlands Marken horstete. Jona wurde die gemeinsame Grabstätte der Könige von Nord- und Westeuropa, weil ein frommer Glaube den auf dem heiligen Eilande Bestatteten am Tage der allgemeinen Vernichtung Erhaltung verhieß. Auf den gefundenen Grabsteinen mit leserlicher Runenschrift sind vier und sechzig Könige Schottlands, Frankreichs, Irlands und Norwegens benannt; von viel mehren hat die Zeit die Schriftzüge verlöscht. Ein vorhandenes Grab von ungewöhnlichem Umfang scheint ein ganzes Geschlecht in sich vereinigt zu haben. Jeder Schritt auf der heiligen Insel geht über Staub von Gekrönten, und jeder Fußtritt berührt das Fragment eines Denkmals großer oder hochgeehrter Menschen, die nicht einmal ihre Namen übrig gelassen haben, und der Enkel im hundertsten Gliede weiß nicht, daß sein Fuß vielleicht das letzte, unkenntliche Andenken eines Ahnen zermalmt. Auf den Trümmern des Druidischen Haupttempels baute der Apostel der Schotten im 6. Jahrhundert eine Kapelle, deren Reste noch vorhanden sind. Sie sind gleichsam das Band, welches heidnisches Alterthum mit dem christlichen verknüpft; denn der Bekehrer machte den großen Heidengott Odin zum Heiligen und widmete ihm das kleine Kirchlein. Und nicht in der Kapelle St. Odin’s (Ovans) allein sieht man die Typen des heidnischen mit denen des christlichen Glaubens wunderbar vermengt; noch andere

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Achter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1841, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_8._Band_1841.djvu/12&oldid=- (Version vom 29.11.2024)