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CCLXXXVII. Canton in China.




In jenes Reich mit dem Riesenkörper und der Zwergseele im Winkel der Erde, in das mit Gebirgen, Wüsten und einem fast buchtlosen Meere fest verschanzte China, zu dem Volke, bei welchem Cultur und Sitte, Wissenschaft und Kunst, Ideen und Vorstellungen seit Jahrtausenden im Kreislaufe unverändert sich bewegen, führe ich heute zum ersten Male meinen Leser.

China ist eine Welt für sich; aber eine Welt ohne Einfluß auf die übrige, und am Körper der Menschheit wie ein erstarrtes Glied. Herder hat das chinesische Reich mit einer eingesargten Mumie verglichen, bemalt mit Hieroglyphen und eingewickelt in glänzende Seide. Ich möchte es mit seinen 400 Millionen Einw. lieber als einen Reservefond der Menschheit betrachten, als ein todtes Kapital, das die Allmacht für unsere jugendliche Civilisation zum Brautschatz zurücklegte, damit diese es einst fruchtbringend nutze. Schon schlagen die Wogen der europäischen Kultur gar mächtig in das Eismeer der chinesischen hinüber; zerstörend wühlt die Brandung am geborstenen Gestade und ihr warmer Odem fährt weit hin über die starre Fläche. Todt wird das Kapital nicht mehr lange bleiben, wenn die Zeichen nicht täuschen.

Regelmäßigkeit und eine genau vorausbestimmte Ordnung, die alle, auch die kleinsten Lebensäußerungen und Thätigkeiten der Menschen beachtet und bevormundet, und der nichts entgeht, ist die Seele des chinesischen Staats. Das ganze Gebäude desselben ruht auf dem, durch alle Verhältnisse und durch alle Stände consequent durchgeführten, patriarchalischen Begriff von der Pflicht des Gehorsams, welchen das Kind seinem Vater, und jeder Unterthan dem Kaiser als Vater des Landes schuldig ist, welcher letztere wiederum dem unabänderlichen Gesetze des Reichs nach Brauch, Wort und Geist unverbrüchlichen Gehorsam zollt. Aus diesem schönen Grundbegriff leitet es sich von selbst ab, daß China außerhalb der kaiserlichen Familie von keinem Geburtsrang, von keiner erblichen Würde, von keinem Adel etwas weiß, und es, dem Prinzipe nach, nur anerkennt den Adel des Talents, des Wissens und des Könnens, und jedem Stande die Laufbahn im Staatsdienste und zur Erlangung der höchsten Ehrenstellen öffnet. Die Reichsverfassung gewährt volle Gewissensfreiheit. Zu keiner Religion ist der Bewohner China’s von Staatswegen gezwungen; keine begünstigt die Regierung vorzugsweise; die Bekenner der Lehren des Confuzius, des Fo, des Brahmah; die Verehrer des Dalai-Lama; Juden, Türken, Christen sogar, genießen die nämliche Duldung. Wenn

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Siebenter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1840, Seite 25. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_7._Band_1840.djvu/33&oldid=- (Version vom 26.10.2024)