Seite:Meyers Universum 7. Band 1840.djvu/211

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
CCCXXII. Die Walhalla.




Seit Jahren schon sucht der nicht befriedigte und in so mancher Beziehung schmerzlich verletzte deutsche Nationalsinn einen Ausweg, indem er sich bald gegen diese, bald gegen jene Seite wendet. Des äußern Schwerpunkts entbehrend, auf dem er mit seinem irdischen Bestande ruhe, sucht er einen idealen auf; und wo ihm die Lebenden nichts bieten mögen, kehrt er bei den Todten ein. Gehindert, sich in schattenden Zweigen auszustrecken, sendet er seine Triebe in die dunkle Erde hinab und schlingt sie liebend um die Schreine seiner Heiligen. Deutsches Volk, das nicht mehr versuchen darf, Rath zu schlagen über deutsches Wohl, sammelt sich um die Urnen seiner großen Männer und richtet ihnen Denkmäler auf.

Vorzugsweise ist es die Architektur, welcher, vermöge der Freiheit und Selbstständigkeit ihrer Formen, vor allen übrigen Künsten es zukommt, Nationaldenkmäler aufzuführen, und Skulptur und Malerei sollten nur dienen, die großartigen Gedanken jener zu verdeutlichen und zu erklären. In diesem Geiste schufen die alten Völker ihre Denkmäler; schmückte Athen seine Akropolis aus, bauten die Römer dem August und Hadrian Mausoleen, richteten die Pharaonen Pyramiden und Tempel auf. Nur da, wo die Persönlichkeit des Helden einen beschränkten Wirkungskreis ausfüllt, ist ein einfaches Bildniß-Setzen schicklich und am rechten Orte; bei Geistern universeller Thätigkeit aber muß das Bildniß stets eine untergeordnete Rolle spielen. – Als die Thüringer dem Bonifacius vor einigen Jahren an einsamer Waldstelle, da, wo der Apostel das erste Kreuz aufgerichtet hatte, ein Standbild errichten wollten, und dem Herzoge August von Gotha zwei Zeichnungen, die in den Gesichtszügen der Statue sehr differirten, zur Prüfung vorgelegt wurden, kritzelte der geniale Fürst einen Leuchter mit brennender Kerze auf’s Papier und schrieb darunter: das ist Bonifacius. Und ein Candelaber wurde aufgerichtet auf der Höhe, der weithin sichtbar ist im

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Siebenter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1840, Seite 203. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_7._Band_1840.djvu/211&oldid=- (Version vom 16.11.2024)