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CCCXVIII. Ofen und Pesth.




Selbstliebe, Verlangen nach Wohlgenuß, Nothwendigkeit, oder Herrengebot sind die einfachen und mächtigen Hebel, welche die Nationen aus dem wilden, barbarischen Zustande in den der Gesittung versetzen. Auch die Ungarn, das jüngste unter den Völkern Europa’s, die von den Hochebenen Mittelasiens herabkamen in die weiten Niederungen der Donau, um eine neue Heimath zu suchen, danken den Wechselwirkungen jener Triebfebern, daß sie fortgerissen wurden in das Culturstreben der westlichen Völker, und ihre socialen Zustände allmählich sich änderten und verfeinerten. Hand in Hand damit ging die Umwandelung in der äußern Physiognomie des Landes. Im Laufe der Zeit hat sich Ungarn aus einer dünnbevölkerten steppen- und morastreichen Niederung zu einem der gesegnetsten Länder erhoben, für dessen Ueberfluß nur Märkte zu schaffen sind, um es zu einem der reichsten des Erdbodens zu machen, und der Ungarn kriegerisches, kräftiges Volk, das früher zu dem civilisirten Europa kaum irgend eine weitere Beziehung hatte, als der westliche Grenzwächter gegen den Andrang der Türken und Slaven zu seyn, eilt so rasch vorwärts auf der europ. Rennbahn der Bildung, als sey es ihm darum zu thun, noch einzuholen, was es versäumt hat. Obschon nur erst der geringste Theil des geistigen Lebens in Ungarn sich in Sprache und Literatur abspiegelt, so sind beide, denen man noch vor wenigen Jahrzehnten im Literaturstaat das Bürgerrecht verweigerte, doch schon zu hohen Ehren gekommen, und ungarische Dichter und Gelehrte empfingen die Huldigungen Europa’s. Ungarischer Unternehmungsgeist auch, durch vaterländischen Sinn veredelt, bleibt vor dem keines Volkes zurück; er erschreckt nicht vor den großen Forderungen der Zeit und zeigt der Aufgabe, die diese stellt, sich gewachsen. Er trocknet die ungeheuren Sümpfe zu Weiden und Feldern aus, macht die Donau zur großen Straße zwischen Europa und dem Oriente, baut Canäle und Eisenbahnen und sucht für die Produkte des Landes Absatzquellen in den entlegensten Ländern.

Die Fortschritte Ungarns auf der Bahn der Civilisation sind verhältnismäßig sehr jung und wurden erst seit der Befreiung von dem Joche der Türken, vor kaum anderthalb Jahrhunderten, groß. Vor der türkischen Eroberung ging Ungarns Kraft im ewigen Kampfe gegen den kriegerischen Fanatismus des Halbmonds auf, und als die Ungarn, keinen Zoll des Landes ohne Vertheidigung lassend, endlich unterlagen, da war, und so lange die schwere Türkenhand auf ihnen

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Siebenter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1840, Seite 179. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_7._Band_1840.djvu/187&oldid=- (Version vom 14.11.2024)