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Es ist gewiß in neun Fällen unter zehn der Mangel an Erziehung, was den übeln Gebrauch menschlicher Fähigkeiten veranlaßt und den Verbrecher macht. – Was soll Erziehung seyn? Doch wohl nichts anderes, als die Potenzirung des Gewissens zur höchsten Macht und die rechte Uebung der speziellen Talente eines Jeden. Was ist aber noch gegenwärtig die gewöhnliche Erziehung? Ich will nicht von der Lehre der Aeltern durch That und Beispiel reden. Man trete nur in eine Schule. Trauriges Beispiel! Statt die Intelligenz zu entwickeln, statt mit diesen jungen, kaum entwickelten Gehirnen Experimente anzustellen, um zu wissen, wozu sie am besten geeignet sind, erstickt man die Keime; statt sie zu pflegen, werden sie zertreten; statt zu leiten, herrscht man; statt zu biegen, werden sie gebrochen. Da wird die lebenvolle Jugend der mörderischen Methode, den Foltern der Grammatik, unverständlichen Doctrinen in der unverständlichsten Form geopfert. In den Augen des Kindes erscheint der Schulmeister wie ein unerbittlicher Despot, der ohne Appell richtet, und nach seinen Launen und Eingebungen straft. Ist das Kind zu diesem Begriffe gelangt, dann lernt es nicht mehr, um zu lernen; es lernt nicht, um besser, um gescheuter zu werden; sondern nur, um der Strafe zu entgehen. Es macht seine Aufgabe, es wiederholt, es lernt auswendig, es antwortet, es hört auf, – Alles, weil es muß, und nur so viel, als es eben muß. Seine Beweggründe sind Gewalt, Furcht, Zwang; allenfalls auch eine Portion Eitelkeit und Eigenliebe: nie aber Verlangen, recht zu thun, nie der Wunsch nach geistiger und moralischer Vervollkommnung. Man höre nur, wie das Kind die von ihm geforderte Antwort ertheilt: es gibt sie mit klagender Stimme, mit dumpfem, einförmigem Ton. Maschinenwerk scheint Alles, das der Schulstock bewegt. Nirgends ist des Schülers Wille dabei sichtbar; so wenig, wie bei dem Rade der Druckmaschine, welche dieses Blatt hervorbringt. Sklavenfurcht, Langeweile, Theilnahmlosigkeit, das sind die Genien unserer Schulhäuser.

Die Tyrannei der Schule endigt und der Jüngling tritt heraus in die Welt. Die Geißel, welche den Knaben peinigte, ist fort, aber jetzt ergreift ihn der Arm der Gesetze. Eine zweite Erziehung, ein zweites Studium soll beginnen. Was wird er erforschen? Die Kunst, stets recht und edel zu handeln? Behüte Gott! Er fragt nur: wie weit geht meine Straflosigkeit? Wo findet sie ihre Gränzen? und darnach modelt er sein Handeln.

Man folge dem talentvollen jungen Menschen, der weder durch Lehre in der Schule, noch durch Beispiel im Elternhause, zu einer Ahnung von sittlicher Würde gelangen konnte, auf dieser Laufbahn, auf welcher jeder Schritt für ihn eine neue, gefährliche Erfahrung ist. Ueberall trifft er auf Ungerechtigkeit, überall stößt er sich an kreuzende Interessen, überall findet er Fesseln bereit, die ihn am nützlichen Gebrauch seiner Kräfte und Anlagen hindern. Unter Form und Namen von Jurisprudenz und Gerechtigkeit, sieht er die Mehrzahl seiner Mitmenschen von zahllosen Uebeln befallen, gegen die sich nur der Reiche, der Mächtige einigermaßen zu schützen versteht. Bei der ängstlichsten Bevormundung aller Thätigkeiten wird ihm doch nicht das rechte Sicherheitsgefühl; immer muß er darauf gefaßt seyn, daß ihn einige Gewaltthätigkeiten des natürlichen, des wilden Zustandes noch zu erreichen vermögen. Neben einer Civilisation, die ihm dient, sieht er eine gesellschaftliche Organisation, die ihn erdrückt und zermalmt,

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Sechster Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1839, Seite 77. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_6._Band_1839.djvu/85&oldid=- (Version vom 18.11.2024)