Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Sechster Band | |
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Welch ein Anblick, wenn man von den letzten Höhen Schwabens den ganzen Spiegel des Bodensees sammt seinen Busen und segensreichen Gestaden ausgebreitet vor sich sieht, im Glanze der Morgen- oder Abendsonne; oder wenn der brausende Föhn den strudelnden, schreienden See peitscht und taumelnde Schiffe, wie leichte Elfen, auf den schäumenden Wogen tanzen. Ist auch der Anblick des Meeres, oder des Himmels, indem das Unbegrenzte, das Unendliche das Vergnügen des Nachdenkens in das des Beschauens mischen, viel erhabener; so macht der des Bodensees durch seine Einfassung, seine lachenden Gestade doch heiterer und froher. Alle Vorlande des Sees siehst du bedeckt mit Städtchen, Schlössern, Klöstern und Dörfern und mit unzähligen kleinen Landsitzen; – dazwischen breiten sich Gärten und Auen aus, dahinter die prächtigen Wälder, die Vorberge der Alpen, die Arlberge, der 7700 Fuß hohe Sentis, und den Rahmen dieses Panorama’s geben die Appenzellener Schneeberge, die glänzenden, leuchtenden, strahlenden Firnen der Graubündtner Kette. Kein Wunder, daß dies herrliche Binnenmeer die benachbarten Staaten mit magnetischer Kraft an sich zog, und es auf der Karte Europa’s gleichsam der Mittelpunkt ist, in dem die Länderfarben zusammenlaufen. Oesterreich, Baiern, Würtemberg, Baden und drei Schweizerkantone theilen sich in seine Gestade und Frankreich streckt seine Arme verlangend darnach aus. Doch so viele Wappenadler auch an seinen Ufern horsten: auf dem See selbst wohnt die Freiheit. Jeder Versuch des einen oder des andern Uferstaats, eine Oberherrschaft über den See zu erlangen, schlug fehl an der Eifersucht der übrigen.
Constanz ist die Hauptstadt des Bodensees, und gab diesem einen seiner beiden Namen. Malerisch liegt es an dem, die beiden ungleichen Theilen des Sees (oberer und unterer See) verbindenden Arme. Der Ort, in bessern Tagen freie Reichsstadt, jetzt Baden gehorchend, zählt nur fünftehalb tausend Bewohner: – einst hatte er 30,000!
Begünstigt durch seine Lage, könnte Constanz die erste Handelsstadt Süddeutschlands und der Schweiz seyn; sie könnte noch immer das seyn, was sie gewesen ist: eine Königin der Städte. Aber öde sind jetzt ihre düstern Straßen, das Gras wächst auf ihren Plätzen, sie verfällt und verarmt mitten in einem Paradiese, als ruhte ein Fluch auf ihr ob der Gräuel, welche einst in ihr geschehen. –
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Sechster Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1839, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_6._Band_1839.djvu/58&oldid=- (Version vom 17.11.2024)