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CCXXXXIV. Xeres in Spanien.




„Um die Gluth der andalusischen Sonne zu vermeiden, war ich von Puerto Santa Maria in der Nacht aufgebrochen, und gedachte Xeres noch vor Tagesanbruch zu erreichen. Es war eine Nacht, wie arabische Dichter sie beschreiben. Am tiefblauen, wolkenfreien Himmelsgewölbe funkelten ungezählte Welten, und der Vollmond warf ein melancholisches Licht über die todtenstille Landschaft. Die tiefen, starren Schatten der Oelbäume, die den Weg zu beiden Seiten einfaßten, sprachen mich schauerlich-wehmüthig an, und wandernd in einer paradiesischen Gegend dachte ich mit träumerischer Sehnsucht an die nordische Heimath. Die vom Mondlicht gebleichte Ebene kam mir vor wie ein Schneefeld, die Baumpflanzungen, welche die weiße Ebene vergitterten, wie die breiten Trauerränder düsterer Kiefernwälder, und die am blauschwarzen Himmel hinziehenden weißen Wolkenschäfchen wie ungeheuere Schneeflocken, der erstarrte Winterathem der deutschen Erde. Ich träumte in die Knabenzeit zurück und genoß noch einmal die tolle Lust jener mondhellen Decemberabende, wo wir Schlitten fuhren vom Kirchhofbühel herab und uns um das höhere Grab des dicken Schulzen, als um den besten Abfahrtspunkt, balgten. – Schnell wechselt der Traum seine Bilder. Vom Grabhügel der Heimath schaukelte er mich auf die Eisgipfel der Sierra Neveda, um welche die Städte und Kirchhöfe und die Völkerschaften Spaniens umher in weitem Kreise liegen. O wie viel Jammer der Tiefe ging an meinem weitschauenden Auge vorüber! In den grünen Thälern sah ich Schlachtfelder blutroth blühen; ich sah die Würgengel flattern, wie scharfkralligte Vögel der Nacht, über verbrannte Dorfer; Städte sah ich in Schutt, und viele Gotteshäuser reckten feurige Arme gen Himmel. Aber der blickte mit seinen tausend Sternenaugen ruhig auf die wahnsinnigen Menschen und auf ihre thränenreiche, thorichte Selbstqual. Mit zartem Rosenroth umzog er seinen Osten und verkündigte den schönsten Tag.

Der Ruf meines Dieners: Dort ist Xeres! entrückte mich meinen Träumereien. Ich sahe auf, und in der Ferne, hinter Orangenhainen und Platanenwipfeln, blitzten in den ersten Strahlen der Morgensonne die Spitzen der Thürme.

Von der Anhöhe, auf der wir waren, bis zur Stadt, sind anderthalb Stunden. In dieser Entfernung sieht Xeres aus, als wäre es ein London, oder ein Constantinopel. Die erstaunliche Menge der nahen Klöster, Kirchen, Landhäuser etc., deren weiße Gebäude sich von dem dunkeln Hintergrunde vortrefflich abheben, schmelzen mit der Stadt zu einem Ganzen zusammen und geben ihr das Ansehen einer zwanzigfachen Größe. Xeres, voll prächtiger Gebäude, hat

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Sechster Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1839, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_6._Band_1839.djvu/51&oldid=- (Version vom 1.10.2024)