Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Sechster Band | |
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glauben wir noch nicht gesehen zu haben: – was ist’s? Der Pallast der Cortes. Wie sollten wir die Begierde unterdrücken, in einer solchen Zeit, der Zeit des Ernstes und der Schrecken, Zeuge einer solchen Versammlung zu seyn?
Wir stehen vor dem Pallaste. Ihm gegenüber, auf dem freien Platze vor demselben, sieht von hohem Postamente eine eherne Bildsäule nieder. „Ist es Riego’s?“, „„die des Cervantes!““ fällt die Antwort; „dort neben an, in dem kleinen Hause, schrieb der Dichter seinen Don Quixote und – hungerte.“
Mit klopfendem Herzen treten wir in den Sitzungssaal. Er ist groß, länglich rund, mit gewölbter Decke. Auf einer Erhöhung, fast in der Mitte des Saales, steht der Thron, davor der Tisch des Präsidenten und der Secretaire; zwei Rednerstühle zu beiden Seiten; im Kreise umher, auf Bänken, amphitheatralisch über einander geordnet, sitzen die Deputirten. Die Namen einiger Helden aus dem Unabhängigkeitskriege, einige Opfer der spätern Zeiten, bilden den einzigen Schmuck der Wände. In der Mitte der Saalhöhe läuft die Gallerie für das Publikum im Kreise herum. Die vordern Sitze, welche vorzugsweise den Damen gehören, sind gewöhnlich mit einer Doppelreihe geschmückter Frauenköpfe und gestickter Mantillen eingenommen; auch die übrigen Sitze sind selten leer. Aber alle diese Zuhörer gehören der gewählten Gesellschaft an; keiner den untern Classen, dem Volke.
Die Form des Saals, das Schmucklose desselben, das gedämpfte, von oben herabfallende Licht, alles macht den gefälligen Eindruck der Einfachheit und Würde.
Mit neugierigem Blicke mustern wir die Versammlung der Cortes. Wenige Uniformen, wenige Priesterröcke; vorherrschend die einfache, schwarze, bürgerliche Kleidung. Die meisten sind Männer von mittlerem Alter; viele auch noch jugendlichen Ansehens; Greise nur wenige. Auffallend ist die Fülle von Charakterausdruck in diesen gebräunten Gesichtern; keines ähnelt dem andern. In der ganzen Versammlung liegt etwas Ernstes, Gehaltenes, Würdiges; nur aus wenigen Physiognomieen lauscht die kochende, unbezwingliche Leidenschaftlichkeit des Südens. Diese letztern sind die Elemente der stürmischen Debatten, welche oft ein Augenblick improvisirt, und jeder Tag durch neue Ereignisse, neue ergreifende Szenen, neues Unglück, neue Stürme herbeiführt.
In den Cortes sind alle Talente des constitutionellen Spaniens vereinigt. Das spanische Wahlgesetz ist vortrefflich, und es hat die Wirkung gehabt, die Cortesversammlung bisher immer mit einem vollen Maße von Talent, Vaterlandsliebe und Rednergabe auszustatten. Aber das Ringen dieser Männer, – und ein wahrhaft tragisches Ringen ist es! – was hat es geholfen? – Wer achtet noch auf die gewaltigen Redner mit den stumpfen Donnerkeilen? Die Cortes halten das Rad des Verderbens nicht auf; aber das Rad wird sie zermalmen zu gewisser Stunde, wenn die letzten Illusionen der constitutionellen Monarchie auch dort verschwunden sind, und deren Thron und Institutionen die nämliche Welle begräbt.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Sechster Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1839, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_6._Band_1839.djvu/38&oldid=- (Version vom 12.11.2024)