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CCXXXX. Semlin.




Semlin, obschon uralt, hat das Ansehen einer Stadt von gestern. Die unaufhörlichen Kriege, welche während der letzten Jahrhunderte dieses Land durchwühlten, ließen auch nicht ein einziges Baudenkmal aus ältern Zeiten übrig. Symmetrisch reihen sich die neuen, gleichförmigen Häuser zu breiten Straßen, und selten unterbricht ein öffentliches oder Privatgebäude von größern und geschmackvollern Verhältnissen und solider Bauart die architektonische Monotonie. Doch das rege Leben und Treiben der bunten Bevölkerung entschädigt reichlich dafür. Betrachtet man die verschiedenen Physiognomien und Trachten, und hört man das Durcheinander der Sprachen und Dialekte, so kann der Gedanke entstehen, man sey an einem Ort, wo sich die Repräsentanten vieler Völker der Erde Rendezvous gegeben haben. Man erkennt, daß Semlin auf dem Punkte liegt, in welchem die Scheidungslinien mehrer Nationen des Abendlandes und des Orients zusammenlaufen. Alle Einwohner von Semlin sprechen einige Sprachen; die Nothwendigkeit, sich täglich in vielen verständlich zu machen, ist ihre Lehrerin. Handelsleute, Wirthe, Barbiere z. B., wissen sich oft in einem Dutzend auszudrücken; mindestens wird dieß jeder im Griechischen, Türkischen, Deutschen, Lateinischen nothdürftig können; slavonisch und ungarisch reden ohnehin alle. In gebildetern Kreisen ist lateinisch das gewöhnliche Unterhaltungsmittel, sobald ein Fremder an der Conversation Theil nimmt; und man hört das Idiom des Cicero mit Leichtigkeit und Zierlichkeit sprechen.

Semlin, nach Größe, Reichthum und Einwohnerzahl (10,000) die wichtigste österreichische Stadt an der serbischen Gränze, hat vielen Handel mit den Ländern der europäischen Türkei, der sich mit jedem Jahre vergrößert. Er wird genährt durch die Donau und begünstigt durch die hier befindlichen Quarantaine- und Contumazanstalten, welche alle aus der Türkei kommenden Reisenden und Waaren zu einem längern oder kürzern Aufenthalt nöthigen. Selbst die Briefe werden hier geöffnet und gereinigt, ehe sie weiter befördert werden dürfen. Deshalb ist es auch besonders der Speditionshandel, der groß und einträglich ist, und kein aus, oder über Ungarn mit der Türkei verkehrendes Haus kann eines Correspondenten in Semlin gänzlich entbehren. Die hiesigen Spediteure genießen den Ruf der Redlichkeit, der Zuverläßigkeit und Pünktlichkeit auch bei Besorgung kleiner Aufträge.

Semlin hat Manches, was man schwerlich an einem Orte seiner Größe, zumal in einer slavonischen Stadt und an den Marken der Türkei suchen wird: z. B. ein recht hübsches Theater, in welchem, abwechselnd, deutsche und ungarische Nationalstücke gespielt werden, Reunions, Bälle und Konzerte, stattliche, vortrefflich ausgerüstete Hotels und in seiner nächsten Umgebung öffentliche Gartenanlagen und Vergnügungsorte, die von den bessern Classen der

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Sechster Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1839, Seite 25. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_6._Band_1839.djvu/33&oldid=- (Version vom 28.9.2024)