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Darmstadt selbst hingegen hat keine Ansprüche auf eine reizende Lage. Es ist in eine Sandebene gebaut, deren unangenehme Monotonie nicht einmal durch Fruchtbarkeit gemildert wird. Auch die städtische Physiognomie hat etwas gar Langweiliges und Einförmiges. Der alte Kern (von dem unser Bild die vortheilhaftesten Punkte darstellt) ist winklich und klein, und der weit größere Theil neuerer Entstehung hat wenig Anspruch auf architektonische Schönheit. Die Häuser sind meistens in einerlei Styl, die Straßen unverhältnißmäßig breit, mit zahlreichen Märkten und leeren Plätzen; man sieht in ihnen wenig Menschen und fühlt sich einsam. – Darmstadt, jetzt 24,000 Einwohner, hat keinen blühenden Handel und keine so großartigen Gewerbe, um die Wogen der Bevölkerung in steter Bewegung zu erbalten. Die Basis des hiesigen Lebens ist der Hof; naturgemäß bildet sich um diesen ein weiter Kreis von Civil- und Militärbeamten, und aus diesen Elementen fließen die Nahrungsquellen der Bürger. Daher hat auch die Masse des hiesigen Volks von jeher als sehr loyal gegolten und selbst in den versuchungsreichsten Zeiten gab sie unzweideutige Beweise ihrer treuen Anhänglichkeit an Legitimität und hergebrachte Ordnung. Die jedem Biedermann wohl bekannten Wenigen, welche dort was Mehres und Anderes wollten, – sie bildeten einen falschen Ton im Conzerte; darum hat man, wie man auch anderwärts gethan, die disharmonischen Saiten von den Tasten gelöst und man hört sie nicht mehr. –

Der Großherzog lebt in dem sogenannten „Neuen Schlosse,“ einem ziemlich planen, auch nicht großen Pallaste. Das alte Schloß, von burgmäßiger, regelloser Bauart, mitten in der Stadt, dient andern Gliedern der fürstlichen Familie zur Wohnung. Daselbst sind auch die öffentlichen Sammlungen zu sehen: – eine Gemäldegallerie mit 600 Tafeln, unter welchen sich gute Bilder von alt-niederdeutschen Meistern, von Cranach, Titian, den Teniers, von Potter und andern Niederländern, bei vielen schlechten und mittelmäßigen befinden; das Naturalienkabinet, mit einer der reichsten Fossilien-Sammlungen in Europa, und die Bibliothek von etwa 100,000 Bänden. Eine sehr lobenswerthe, die Bildung befördernde Einrichtung erlaubt den Bürgern, sich Bücher aus derselben unentgeltlich zu leihen, und sie für eine gewisse Zeit zu Hause zu behalten. – Das Theater, nahe bei’m Schlosse, galt zu Lebzeiten des vorigen Fürsten (der kein größeres Vergnügen hatte, als manchmal die Oper selbst zu dirigiren) als eins der vorzüglichsten Deutschlands. Aber die besten Musiker sind längst fort und zerstreut. Als besondere Merkwürdigkeit zeigt man allen Fremden das große Exerzierhaus – dessen Raum, 319 Fuß lang bis 157 Fuß breit, ein simpler Zimmermann bedachte, nachdem große Baumeister die Aufgabe für unlöslich gehalten hatten. Bei weitem das schönste Gebäude Darmstadt’s aber ist die neue katholische Kirche, ein Werk Moller’s, im edelsten Style. Ihre herrliche Rotunde von 175 Fuß Durchmesser und 123 Fuß Höhe wird von 50 Fuß hohen Säulen getragen. Am Schloß sind schöne Gartenanlagen (im englischen Geschmack), welche der humane Sinn des Fürsten dem Publikum offen hält.



Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Sechster Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1839, Seite 214. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_6._Band_1839.djvu/222&oldid=- (Version vom 8.10.2024)