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Hauptstadt. Trotz der Divergenz ihres Berufs verfolgen doch Alle einen und den nämlichen Hauptzweck: und der ist kein anderer, als in kürzester Zeit möglichst viel „Geld zu machen,“ um den Abend des Lebens in Ruhe und Genuß in Europa zubringen zu können. Kein Europäer läßt sich hier nieder, um sein Geld zu verzehren, und wenn einmal ein Kaufmann, vom übermäßigen Erwerb verleitet, sich für immer hier ansiedelt, so ist’s doch nur als Ausnahme und nicht als Regel. Der Generalgouverneur ist das Haupt der Gesellschaft. Er sondert die weniger Gebildeten und die ärmeren Europäer auf die einfachste Weise dadurch aus, daß er sie nicht zu seinen Festen einladet. Diese Ausgeschiedenen leben in kleinen, abgeschlossenen Cotterien für sich, zu stolz, sich mit der noch eine Stufe niedriger stehenden portugiesischen Bevölkerung (Krämer, Wirthe etc.) zu amalgamiren, welche eine dritte Klasse bildet. Die zahlreichen Muhamedaner, die ehemaligen Herren des Landes, sind EO IPSO separirt; die Hindu-Gesellschaft endlich zerfällt in ein endloses Fachwerk, vom mediatisirten Fürsten und Rajah, bis zum verachteten Paria. Außer diesen gibt es noch gelegentliche Residenten – Amerikaner, Franzosen, Deutsche etc., – welche Handelsunternehmungen und Schifffahrt auf kürzere oder längere Zeit hieher führen. Sie gesellen sich denjenigen zuerst genannten Classen zu, auf welche sie vermöge ihrer Bildung und ihrer Empfehlungen Anspruch haben. Im Ganzen finden Fremde eben nicht die zuvorkommendste Aufnahme. – Noch ein bedeutender Theil der Bevölkerung tritt hier auf, welche sich sehr vermehrt und an Einfluß und Geltung, wie an Bildung, entschiedene Fortschritte macht. Es ist die sogenannte Halbkaste (HALF-CAST), die Vermischung indischen und brittischen Bluts, meistens unlegitimen Ursprungs. Es ist ein schöner Menschenschlag und der Liebreiz der Damen führt diese oft als Gattinnen in höhere Kreise. Auch Reichthum und Bildung ist bei ihnen keine seltene Zugabe; denn viele einträglichen Zweige des Verkehrs Calcutta’s, zumal mit dem Innern des Landes, blühen ausschließlich in den Händen dieser Mulatten. – Endlich haben wir auch noch die europäischen Misses zu erwähnen – liebenswürdige Glückfräuleins, von guter Familie und ohne Vermögen, welche ihre Verwandte in England, jährlich ein paar Ladungen voll, hierher consigniren, um mit einem reichen Manne, oder doch mit einer reichen Erbschaft von ihm, einst zurückzukehren und dann als „Nabobesses“ in den Routs und Assembleen der Hauptstadt zu glänzen; ein Zweck, der auch gewöhnlich erreicht wird.

Merkwürdig ist der Einfluß der brittischen Herrschaft auf die höhern Cirkel der indischen Gesellschaft und ihre allmähliche Verwandlung. Noch kämpft zwar das Brahminenthum um jeden Fußbreit seines Besitzes hartnäckig mit der vordringenden Fluth der westlichen Fremdlinge; aber täglich verliert es in dem ungleichen Streite an Terrain, und immer mehr zieht es sich in eine engere und niedrigere Sphäre zurück. Alle Waffen der europäischen Kultur sind hier gegen den Brahminismus in unausgesetzter Thätigkeit und arbeiten rastlos an seiner endlichen Ausrottung. In mehr als hundert Freischulen, zum Theil nach Bell-Lancaster’schen Prinzipien, sind den Hindus, bis zum geringsten Paria herab, die Schleußen des Unterrichts geöffnet; sieben hindostanische Zeitungen und Journale, von denen 2 fast

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Sechster Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1839, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_6._Band_1839.djvu/217&oldid=- (Version vom 8.10.2024)