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niedrigen Wohnungen der Hindus freundlich heraus. Weiter hinan breitet die tropische Cocospalme ihre Fächer aus, erst einzeln, dann immer zahlreicher; und hinzutretende Pisanggebüsche und anderes Gehölz mit prächtigem Laubwerk und von fremdartigem Wuchse bilden Kränze um die in Dörfer zusammenrückenden Hütten von Bambus. So fort, von Culturgrad zu Culturgrad, verwandelt sich allgemach die von Bestien bewohnte Wüste in die entzückendste Landschaft, wo Alles Gedeihen, Frieden und heitern Lebensgenuß athmet; wo Dorf an Dorf, Anlage an Anlage sich reiht, wo die stolzen Sommerpalläste und Villen der fremden Herren des Ostens wetteifern an Pracht und Herrlichkeit mit den einheimischen Palmenhainen, die der naturfreundliche, parkliebende Sinn der Engländer um ihre Wohnungen gepflanzt hat.

Endlich blinken in der Ferne, in einem weiten Halbzirkel, aus einer grauen Rauchwolke goldene Thurmspitzen, und das dichte Gewühl von Schiffen und Booten im Flusse, und jenes von großen Bevölkerungsmassen ausgehende, charakteristische Summen verkündigen die unmittelbare Nähe Calcutta’s.

Das erste Gebäude der Stadt, welches dem Ankömmling in die Augen fällt, ist das Gewächshaus des botanischen Gartens; eine schöne Anlage, brittischen Herrschersinns würdig, vielleicht einzig in ihrer Art. Eine doppelte Reihe von eleganten, sämmtlich mit Balkonen und Colonnaden gezierten Wohnungen knüpft diesen Punkt mit der eigentlichen Stadt zusammen. Der bischöfliche Pallast, im neu-gothischen Style, macht, landeinwärts gelegen und von Palmen und Teakbäumen umschattet, einen wunderbaren Anblick, der den christlichen Beschauer tief ergreift, wenn er sich erinnert, daß an dieser Stelle noch vor hundert Jahren braminische Priester Menschenopfer brachten.

Weiterhin bildet der Strom einen fast rechten Winkel, und auf der von ihm eingeschlossenen Landspitze zeigen sich die weiten Anlagen der Dock-Yards von Kydpore. Hier werden Schiffe bis zu 1000 Tonnen Trächtigkeit vom kostbaren, kaum verwüstlichen Teakholze gebaut, und diese Docks sind mit den größten, gleichartigen Anlagen bei London und Liverpool zu vergleichen. – Und nun erst, nachdem sich das Dampfschiff um die Landspitze gebogen hat, wird dem Reisenden der Anblick des eigentlichen Calcutta, dessen unabsehbare Häusermasse drei Meilen vom linken Ufer des prächtigen Stromes überdeckt.

Calcutta nimmt sich auf diesem Punkte überaus großartig aus; aber nicht schön, nicht malerisch. Die Masse hat etwas Schwerfälliges, für den Betrachtenden Drückendes, wie es der Anblick jeder großen Stadt hat, die in einer Ebene liegt. – Die Thürme, deren Spitzen in der Ferne über der Rauchwolke sich so erwartung-spannend ausnahmen, scheinen in der Nähe verschwunden: sie zogen sich in die Tiefe der chaotischen Masse zurück, und würden die Ansicht sehr kahl lassen, ersetzte sie nicht gewissermaßen ein Wald von hohen, bewimpelten Masten, der aus dem mit Schiffen bedeckten Strome aufsteigt, welcher mit seinem regen Leben und Treiben erkennen läßt, daß in der Hauptstadt des brittisch-indischen Reichs kein Monarch, sondern der Handel selbst auf dem Throne sitzt.

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Sechster Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1839, Seite 207. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_6._Band_1839.djvu/215&oldid=- (Version vom 8.10.2024)