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mit jenen um den Vorrang streitend. Es ist der Tempel des Dschaggernauth, – jener weltberüchtigte, wo der religiöse Aberglaube, von habsüchtigen Priestern genährt, alljährlich Tausende von Menschenopfern schlachtete.

Sorgfältig vermeidet das Dampfschiff die Küste; denn sie wimmelt von Untiefen und Sandbänken, und je näher dem Ziele, je gefährlicher wird die Fahrt. Signale werden aufgesteckt, um einem der in der Nähe der Hoogly-Mündung kreuzenden Pilotenschiffe anzuzeigen, daß man seinen Beistand wünsche, worauf sogleich eine Barke in See sticht, einen Piloten an Bord, der die Führung des Schiffs über die Barre des Stroms übernimmt; eine Vorsicht, deren Unterlassung jährlich eine Menge Seeschiffe mit ihrem Untergang büßen. Hinter der Barre ist der Fluß eine Stunde breit, und unzählige kleinere Arme desselben schließen ein niedriges angeschwemmtes Land ein, das sich zur Fluthzeit kaum über den Wasserspiegel erhebt. Auf einer der Inseln, dicht an der Barre, sind Befestigungen aufgeworfen und Batterien errichtet; eine Telegraphenlinie reicht von hier bis Calcutta. Um den Telegraphenthurm her ist das Dickicht vom haushohen Rohr gelichtet, und einige Häuser, Wohnungen der Beamten und der schwachen Garnison, haben auf terrassenförmigen Aufwürfen niedliche Gärtchen, welche mit der Einöde und Wildheit der Gegend einen sonderbaren Contrast bilden. Das ganze Etablissement ist mit Pallisaden umzäunt, nicht zum Schutz gegen menschliche Feinde; sondern gegen die Tiger, welche die Dschungeln des Sunderbunds zahlreich bewohnen: – so nennt man nämlich das ganze Delta zwischen dem Hoogly, dem eigentlichen Ganges und dem Buramputer. Merkwürdig ist es, daß unleugbare Spuren dieser jetzt unbewohnbaren Gegend eine große Cultur und zahlreiche Bevölkerung in urgeschichtlicher Vorzeit nachweisen. Bei den häufigen Uferbauten findet man Münzen, metallenen Schmuck u. dergl. in Menge, meistens aus der Zeit vor Alexander, und nach einer von den Braminen bewahrten Tradition blühte hier einst die Hauptstadt eines großen Reichs. Wahrscheinlich war’s der Einbruch des Meers, der die ganze Bevölkerung und alle ihre Werke mit einmal vernichtete und von den Tafeln der Geschichte wischte. Erst noch vor 6 Jahren zerstörte ein ähnliches Ereignis alle Dörfer bis an die Thore von Calcutta und Tausende von Menschen begrub die Fluth.

Größere, schwerbeladene, tief gehende Schiffe können nur mit der Fluth nach Calcutta gelangen, und sie erwarten diese in Diamond-Harbour, der zugleich Station der Dampfboote ist, welche zum Bugsiren dienen. Ganz große Schiffe von mehr als 800 Tonnen müssen einen Theil ihrer Ladung löschen, und sich solche in Barken nachführen lassen: eine große Beschwerde für den Handel, der durch eine Eisenbahn abgeholfen werden soll, welche von Hoogly-Point nach Calcutta gebaut wird. Größere Fahrzeuge werden dann gar nicht mehr nach Calcutta versegeln, sondern an der Mündung der Hoogly ihre Ladung empfangen.

Schon ehe man nach Diamond Harbour gelangt, hat sich die Ufer-Landschaft des Flusses allmählich vortheilhaft geändert. Bebaute Strecken werden häufiger, und aus dem sammetnen Grün üppiger Reispflanzungen gucken die

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Sechster Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1839, Seite 206. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_6._Band_1839.djvu/214&oldid=- (Version vom 8.10.2024)