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besteigen den Brocken, um einen Sonnenaufgang zu sehen, den sie daheim vom nächsten Berge schöner erlauschen könnten und mit dem hundertsten Theil der Mühe.

Bist du satt, Leser, vom Schauen? – Ist’s so, dann ist’s Zeit, daß ich dir nach so viel Schönem noch etwas Erhabenes zeige. Siehst du jene Eiche auf der Constanzer Höhe, die, von der Last der Jahrhunderte nicht gebeugt, ihre hundert kräftige Arme zum Himmel ausstreckt? Tritt näher; betrachte sie und zittere vor Ehrfurcht! denn du stehst an dem Orte, wo ein Märtyrer für die reine Lehre des Evangeliums die Qualen des Todes litt. Du findest ihn nicht in Roms goldnem Buche, diesen Heiligen: er ist kein Seliggesprochener; – aber so lange in der christlichen Menschheit das Wort Glaubensfreiheit nicht verloren geht, so lange wird auch der Name Huß kein vergessener seyn! Dieser Baum, er symbolisirt das Werk der Kirchenverbesserung, wozu der Märtyrer Huß den ersten Grundstein gelegt. Wisse, die schüchterne Hand der Verehrung setzte diese Eiche als jungen Stamm in die Asche seines Scheiterhaufens; und siehe! aus dem schwachen Reis ist, gepflegt von Gottes Hand, im Laufe der Jahrhunderte ein Riesenbaum gewachsen, der der Blitze spottet und stark ist, den Stürmen zu trotzen.

Es gibt nur eine wahre menschliche Größe. Es gibt etwas Höheres als Geistesstärke, gewaltiges Talent und mächtiges Genie. – Das Höhere ist jene Seelengröße, die alle Gaben des Geistes, alle Anlagen, Kenntnisse, Thätigkeiten, das Leben selbst, immer nur einem erhabenen Zwecke weiht, welcher nicht eigenes Wohl, nicht das Wohl der Zunächststehenden, nicht das Wohl der Vaterstadt, oder des Vaterlandes blos, sondern das Beste der Menschheit fördern will. Setzt die Götzen euerer Zeit als Götter auf Altäre, gießt die Statuen euerer Dichter, euerer Erfinder, euerer Heroen des Wissens in Erz; schmückt mit den Denkmälern euerer Könige und ihrer Räthe und Feldherren euere Gassen aus und ziert damit euere Palläste: immerhin! für einen Mann wie Huß, oder wie Luther, wird nie Raum seyn in einer Walhalla; denn für solche Räume sind solche Männer zu groß. Solche Menschen, die in der Wüste der Ewigkeit wie Meilenzeiger dastehen, an denen die Allmacht die Zeiten mißt, und die Geschichte der Menschheit ihre Epochen datirt, werden durch Denkmäler von Erz nur herabgezogen, nicht erhoben. Muß aber ja ein sichtliches Erinnerungszeichen seyn, so sey es eins, so anspruchslos und doch so herrlich, wie dieser Eichbaum![1]





  1. Da ein vortreffliches Bild von Constanz in einem spätern Theile dieses Werks gegeben werden soll, so werde ich noch Gelegenheit haben das Ereigniß, durch welches jene Stadt so große Berühmtheit erlangte, – das Conzil und Hussens Verurtheilung – ausführlicher zu schildern.
Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Sechster Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1839, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_6._Band_1839.djvu/20&oldid=- (Version vom 10.11.2024)