Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Sechster Band | |
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Man kann reich seyn und recht arm sich fühlen, blos weil man in seinem Ueberflusse den Werth der Dinge zu schätzen verlernt hat. Wer achtet der Blumen noch, wenn der Weg damit so dicht bestreut ist, daß jeder Tritt welche zerknickt? Mag dann auch die Rose am Wege noch so lieblich blühen und duften; man hält’s der Mühe nicht mehr werth, sie zu pflücken. Gähnend und unbefriedigt sucht der Uebersättigte Blüthen auf in unerreichbaren Fernen, läßt sein verlangendes Auge zu unersteiglichen Höhen irren, in den Wolken, zur Sonne fliegen, bis es, vom blendenden Glanze erblindet, weder Blumen noch Früchte auf Erden mehr sehen kann.
So geht’s dem Vielreisenden, so dem Vielbeschreibenden, so dem Viellesenden. Es ist unglaublich, wie pretentiös man werden kann, wenn man von einer Bravour-Parthie der Natur zur andern eilt, von Wunderwerk zu Wunderwerken gezogen wird. Der Genügsamste und Anspruchloseste muß ein Gourmand werden unter solchen Umständen, schon der alten Regel nach, – „je mehr man genießt, je mehr will man genießen.“ Das Schöne, welches man unter andern Verhältnissen überschwänglich finden würde, wirft man nach dem Genusse des Schönern von sich, als wenn es schlecht wäre; von dem Schönsten wendet man sich in Ueberdruß zum Allerschönsten; und hat man auch das gesehen und genossen, dann wünscht man noch Etwas, was man nicht zu nennen weiß und fängt an zu gähnen.
Nicht die tausendfältige Befriedigung, Mäßigkeit allein macht für das Schöne und die Freude dauernd empfänglich, und wenn dieß in Bezug auf jede Art von Genüssen, groben und feinen, sinnlichen und übersinnlichen Geltung hat, so soll auch der Beschreibende manchmal das Kleine und Unbedeutende vorzugsweise festhalten und seinem Leser die Empfänglichkeit dafür zu erhalten suchen. Dieß möge erklären, warum ich den Umfang meiner Beschreibungen niemals ängstlich nach der Wichtigkeit des Gegenstandes bemesse, sondern beziehungsweise Unbedeutendes nicht selten mit sichtbarer Vorliebe ausmale, während ich große, zumal allbekannte Sujets mit breitem Pinsel als bloßen Umriß behandle. –
Wer hätte vom Eskurial nicht gehört? von diesem finstern, stolzen Prachtgebäude in einer Wüste, welches zugleich Kloster, Schloß, Kathedrale und Mausoleum ist? Kein anderer Mensch, als ein Philipp II. konnte es erdenken und kein anderer es ausführen. Das achte Wunderwerk der Welt nennt’s der Spanier, und
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Sechster Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1839, Seite 136. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_6._Band_1839.djvu/144&oldid=- (Version vom 27.11.2024)