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Bäume, und größeres Obst blinkt aus den Gärten der ansehnlichen Dörfer dieser Landschaft, deren Gewässer schon dem Main zueilen, während die eben verlassene noch dem Werragebiet zugehört. In Seidingstadt, 2¼ Stunden von Hildburghausen, einem großen Dorfe, dessen hübsches, anspruchloses Schlößchen mit freundlicher Gartenanlage ehedem der Hildburghäuser Fürstenfamilie zur Sommerresidenz diente, und das noch jetzt zur schönen Jahreszeit für einige Glieder des Hauses der trauliche Vereinigungspunkt ist, nehmen wir einen Führer, um den mit dichter Laubwaldung bewachsenen Basaltkegel zu erklettern, auf dessen Spitze die alte Burg ihr viereckiges Mauerhaupt stolz über alle Wipfel trägt. Eine Allee reicht bis zum Fuße, und ein Fahrweg windet sich von da schneckenförmig hinan, während den Fußgänger, der das Klettern nicht scheut, schmale, an steilen Wänden oft treppenartige Pfade durch dichtverwachsenes Gestrüpp gerade zum Gipfel leiten.

Während des Steigens hat sich um den Kletternden, ihm selbst unbewußt, (denn das Gehölz verhindert jede Aussicht), eine große Welt entfaltet, und wenn er endlich, ermüdet, aus dem Dickicht hervortritt und er die Spitze des Kegels, von dem das gewaltige Mauerwerk in die Lüfte starrt, erreicht hat, öffnet sie sich ihm mit Einem Male. Vor dieser schönsten aller Rundsichten der Gegend flieht die Ermüdung, sinkt alle kleinliche Sorge des Erdenlebens und mit der reinern höhern Luft zieht in die Brust das Gefühl der Freiheit ein und der Nähe der ewigen Heimath. Froh und mit kindlichem Vertrauen blickt der Mensch bald in die im Zitterglanze der Sonne schimmernden, buntgekleideten Fernen hinaus, bald auf die mit rankendem Gesträuch und Wurzeln umklammerten Felsen und Mauern, oder er horcht auf das Zwitschern der jungen Schwalben und das Rufen der Käutzchen vom hohen Gemäuer, oder auf das Zirpen und Summen der Insekten, welche Bäume und Lüfte beleben, und gegenwärtig wird ihm die Liebe des Schöpfers, die Alles umfaßt und für Alles sorgt, von der Milchstraße an seinem Himmel bis zum Grashalm auf seiner Erde. Eine kühne Ahnung des Zusammenhangs steigt in ihm auf, und im Bewußtseyn seiner Gottverwandtschaft und Unvergänglichkeit wendet er sich von dem Endlichen ruhig und zufrieden aufwärts zum Aether. Er weiß, er ist kein Fremdling oder Gast im unbegrenzten Raume, sondern sein ewiger Bürger. –

Daß Tausenden vor ihm an dieser Stelle Herz und Gemüth aufgegangen, sieht er an unzählichen Zeichen. Da ist kein Baumstamm, kein entblößtes Gestein, das nicht Namens- und Erinnerungsmale trüge, und Kreise, Herzen und Sterne umschließen oft viele Namenszüge zugleich. – Der westliche Theil der Rundsicht kann da, wo die Burg ihre Mauern auf den äußersten Rand einer senkrechten Felswand aufsetzt, nur aus dem Innern der Ruine genossen werden, deren Fensteröffnungen durch den Schutt der eingestürzten Zwischenmauern theilweise zugänglich geworden sind. Hier ist die Aussicht überschwänglich schön, zumal wenn die scheidende Sonne in den Wellen ihrer Goldfluth die Fernen taucht und das Himmelsgewölbe mit allen Abstufungen des tiefsten Blaus bis zum glühendsten

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Sechster Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1839, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_6._Band_1839.djvu/111&oldid=- (Version vom 23.11.2024)