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CC. Die Gräber der Patriarchen.




Die Nation der Israeliten lebt ihr viertes Jahrtausend. Zwar ist sie seit lange von der politischen Schaubühne verschwunden, zwar haben wir uns daran gewöhnt, mit mitleidigem Lächeln auf die niedrigen, unscheinbaren Trümmer des längst eingesunkenen Volksbaues herabzublicken: aber der Weltphilosoph betrachtet sie mit Ehrfurcht und in der Bildungsgeschichte der Menschheit steht das Judenthum da als die merkwürdigste aller Erscheinungen.

Judenverachtung ist Rohheit und Unrecht zugleich. Daß in dem Verhältniß, in welchem die Juden zerstreut unter andern, andersgläubigen und anders erzogenen, Völkern leben, sich weder Begeisterung noch Heldengröße (Eigenschaften, an denen sie übrigens nie reich waren,) bei ihnen entwickeln können, ist wohl begreiflich. Der Druck, in dem sie gehalten wurden und noch werden, hat bei den Juden den Funken der Begeisterung nothwendig ausgelöscht, die thatenreiche Energie des Geistes vernichtet, Hoheit und Schwung der Gesinnung zu Unmöglichkeiten gemacht. Aber genetisches Wesen und Charakter seines Volks hat der Hebräer dennoch unverändert bewahrt. Er ist so unauslöschlich, als er für uns räthselhaft bleibt; er ist so alt wie das Land, das die Patriarchen bewohnten. Der Jude gehört, wie jedes andere selbstständig ausgeprägte Volk, seinem Weltstriche an; diesem aber für immer und unwiederbringlich entrissen und verpflanzt in alle Völker, erscheint er nothwendig aller Orten wie ein fremdes, nicht hergehöriges Gewächs. Was der Jude sich an seinem Jehova denkt, denken wir uns nicht an demselben; was wir für Wirksamkeit und Freiheit des Geistes, für männliche Ehre, für Würdigkeit und Tüchtigkeit halten, denkt jener sich anders. Von Vielem, was uns edel, gut und groß, der Aufopferung und Begeisterung werth erscheint, ermangelt dem Juden selbst der Begriff; und anderer Seits sind wir Völker, die wir jene Nation zwei Jahrtausende lang des Rechts und der Ehre beraubt und sie unter einem mehr als asiatischen Drucke geknechtet haben, selten geneigt, gerecht zu seyn in Würdigung ihrer Tugenden, und oft nicht einmal fábig, sie zu erkennen.

„Spotte nicht des Unglücklichen,“ mahnt der Herr, und unglücklich ist das „Volk Gottes,“ denn es ist ohne Vaterland, ohne Ehre und ohne Wohnung. Nicht einmal die Ruhestätte der Ahnen gehört ihm im Lande seiner Väter. Ueber den Gräbern der Patriarchen wölbt sich der Tempel eines andern Glaubens, und ein anderes Volk bedroht mit Todesstrafe den Israeliten, der seiner Ahnen Gruft zu betreten wagt.

Die Gräber der Patriarchen sind bei Hebron gelegen, in dessen Umgebung Abraham, der biblischen Tradition nach, seine Heerden weidete. Hebron liegt eine Tagereise von Jerusalem in einer hügelichten,

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1838, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_5._Band_1838.djvu/65&oldid=- (Version vom 25.8.2024)