Seite:Meyers Universum 5. Band 1838.djvu/48

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.

von den Bergen zu dir hernieder steigt, und bietest ihm Freude in Fülle dar. Erquickung dem Ermatteten, Augenweide dem Schaulustigen, heitere Gesellschaft dem Frohen, und der Melancholie düstere Schattengänge dem Traurigen und Unglücklichen. Reste der Vorzeit zeigen die alten Mauern, welche einst dein klösterliches Haus umgaben, und wie versteinerte Sagen stehen ernst und stumm die halbverwitterten Monumente alter Landgrafen unter der Kirche schützendem Dach. Die uralten Linden um den großen, steinernen Mönchstisch rauschen und plaudern, als erzählten sie sich von den längst vergangenen Zeiten. . . . . Hier will ich am stillen Abende sitzen und der Tage gedenken, wo die Glocken über mir Denen zu Grabe riefen, welche im Fürstenglanze strahlten. Von dem hohen Bergschlosse mußten Alle herab, hier fanden die nimmermüden Streiter ihre Ruhestätte, bis die Sturmschwingen der Zeit ihren Grabesstaub und ihrer Leiber Asche spurlos verwehet hat.“

Mit diesen Worten führt Thüringens eigentlichster Dichter, unser Bechstein, seine Leser in den reichen Kreis der Geschichten von Reinhardsbrunn, welche mit denen der Wartburg die interessantesten des Thüringer Landes ausmachen.

Auf der Gründung Reinhardsbrunns liegt das Morgenroth der Geschichte, der goldene Schein der Legende. – Ludwig, der zweite Thüringer Landgraf, ein Fürst von ritterlichem, abenteuerlichem Geiste, hatte auf seinen Fahrten die Gemahlin des Pfalzgrafen von Sachsen kennen gelernt. Bald war mit dem schönen Weibe ein verbrecherisches Verhältniß angesponnen. Die Liebenden beschlossen, den Pfalzgrafen aus dem Wege zu schaffen. Gelegenheit ersann Ludwig, erstach ihn mit eigner Hand, und nahm die Wittwe zu sein Gemahl.

Der Kaiser, dem pfalzgräflichen Hause verwandt, sprach die Reichsacht aus über den Mörder. Aber Ludwig hatte viele und feste Burgen, sein Land war groß und unwegsam, er hatte treue Diener und viele Schlauheit: – bald war er da, bald dort, und es vergingen Jahre, ehe man ihn fahen konnte. Endlich wurde er von den kaiserlichen Dienstmannen aufgegriffen und nach Burg Giebichenstein an der Saale in sicheren Gewahrsam gebracht, um dort die Rückkehr und das Urtheil des Kaisers zu erharren, welcher auf einem Römerzuge begriffen war. Nach fast dreijähriger Haft gelang Ludwig die Flucht durch einen glücklichen Sprung, wie die Sage geht, von dem hohen Thurmfenster hinab in die unten vorbeifließende Saale, woher er den Beinamen „der Springer“ erhielt.

Aber um Kaiser und Reich zu versöhnen, um sich Sicherheit zu schaffen und das erwachte Gewissen zu beruhigen – bedurfte es schwerer Buße. Die beiden Verbrecher pilgerten nach Rom zum heiligen Vater. Dort gelobten sie zur Vergebung ihrer Sünden feierlich: sich zu trennen, ein Frauen- und ein Mannskloster zu erbauen, und ihre Tage in denselben zu beschließen.

Wieder heimgekommen, war es Landgraf Ludwig’s erste Sorge, sich umzuschauen nach einer bequemen Stätte, die zum Bau des Klosters sich eigne. Nicht weit von Friedrichsrode, 3 Stunden von Gotha, lag mitten im Walde ein freundliches Wiesenthal, sonnig und heimlich, und geschützt durch die Berge vor des Wetters Unbill.

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1838, Seite 40. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_5._Band_1838.djvu/48&oldid=- (Version vom 24.8.2024)