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zu lenken; sie geben den Göttern alle Attribute der Macht, damit es ihren Leidenschaften an keinem Werkzeuge gebreche; sie erfinden tausenderlei Opfer, um die Milch der Heerden, das Fett und Fleisch der Opferthiere, die ersten und ausgesuchtesten Früchte des Ackerbaus, das mühsam erworbene Geld des Fleißes und der Geschicklichkeit an sich zu bringen: und unter der Maske der Frömmigkeit verschlingen sie die Opfer der Götter, die nicht essen, und rauben bei ewigem Nichtsthun den Unterhalt der arbeitenden Völker.

Dank der Vorsehung, das Erbe dieser Betrüger wird mit jedem Tage kleiner, und ihr Gestirn, das schon lange kein aufsteigendes mehr gewesen ist, geht schnell unter. Den höhern Kreisen der indischen Bevölkerung ist die Lehre der Brahminen meistens entfremdet, und nur bei den rohen Massen hat sie noch Glauben. Von diesem leben die Brahminen, und ihn sich zu erhalten, bieten sie alle Taschenspielerkünste auf, rufen sie alle Hülfsmittel unaufhörlich in’s Feld.

Als eins der mächtigsten hat die Priesterkaste die Kunst gefunden, unter dem Titel der Gottesverehrung den Sinnen die gröbsten Feste zu bereiten. Zu diesem Behufe unterhält sie in allen Theilen Indiens eigene Tempel und bietet die Theilnahme an den zu bestimmten Zeiten in denselben stattfindenden Orgien, als der Gottheit wohlgefällige, sündenreinigende Werke, dem Volke zum Kaufe an. Jeder solcher Tempel wird dadurch zum Wallfahrtsort für Hunderttausende, und zur reichsten Fundgrube des Lasters, des Elends und – worauf es eigentlich allein abgesehen ist, – zu jener der priesterlichen Habsucht.

Unser Bild führt uns auf die Schwelle des berühmtesten und ältesten Schauplatzes jener scheußlichen Mysterien: zum Tempel des Juggernath in Orissa. Seine Erbauung geht in’s 12. Jahrhundert zurück; und von der Größe des Gebäudes kann man sich einen Begriff machen, wenn man weiß, daß in seinem Raum, den eine Mauer einschließt, 3000 Priester wohnen, die 400 Köchinnen und 1200 Mädchen und Tänzerinnen zum Dienste der Gläubigen und Wallfahrer unterhalten. Alle Tempeltheile und Wohnungen sind von Marmor, und von innen und außen mit Skulpturen der ekelhaftesten Vorstellungen bedeckt, welche des Orts Bestimmung verrathen.

Die Feste beginnen in der Mitte des Juni. Schon mehre Tage vorher fängt das Kommen der Pilgerschaaren an, die am Tage der Festeröffnung zu Hunderttausenden sich versammeln. Die unförmliche Bildsäule des Götzen wird auf ein 60 Fuß hohes, vergoldetes Gerüst mit Rädern gesetzt, 20 weiße Elephanten, eigends für den Dienst des Gottes unterhalten, davor gespannt, und unter dem Schall der fürchterlichsten Musik und dem Freudengeschrei des Volks, von den Brahminen auf eine Anhöhe geführt. Hierauf wird Jeder, der den gesetzten Preis entrichtet, Mädchen, Männer, Bursche und Weiber, in den Tempel gelassen. Acht Tage dauern die Feste, deren Beschreibung die Feder verweigert; den Beschluß macht das feierliche Wiederheimholen des Götzen.

Man rechnet, daß an diesem einzigen Orte jährlich mehr als 200,000 Wallfahrer den Priestern Tribut zahlen, von denen die meisten der ärmern Klasse zugehören, welche die Himmelstage, wie sie dieselben nennen,

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1838, Seite 223. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_5._Band_1838.djvu/231&oldid=- (Version vom 6.11.2024)