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der Himmelskörper des Menschen Geschick. Jenes Kind, umgeben von einem Schwarm von Priestern mit gelben Hüten, ist der große Lama – der eingefleischte Gott des Thibetaners. Auch der Calmücke glaubt mit ihm, Gott könne nur in einem Menschenkörper wohnen, und Beide lachen über die Dummheit des Bengalesen, der den Mist der Kuh verehrt, während ihnen doch selbst die Exkremente ihres Oberpriesters heilig sind. – Wem gehören jene ungestalten Abbildungen, doppelter, dreifacher, vierfacher menschlicher Figuren, mit Löwen, Schweins- und Elephantenköpfen, mit Fisch- und Schildkrötenschwänzen u. s. w.? Das sind die Vorstellungen der indischen Völker, die Gott in den Thieren und die Seelen ihrer Aeltern im Ungeziefer suchen; jener Völker, die Freistätten stiften für Vögel, Schlangen und Ratten und den Pariah verhungern lassen; die sich von der Berührung ihres Nebenmenschen befleckt wähnen, während sie ihre Seele zu reinigen glauben, wenn sie sich im Kothe wälzen.

Auch sie, die Indier, haben eine Dreieinigkeit Gottes. Sie haben einen Gott-Vater im Bramah; aber der hat keine Tempel mehr, obschon er Schöpfer des Weltalls ist. Wischnuh ist die zweite Person ihres dreieinigen Gottes – der Gott Erhalter. Erhalter soll er seyn, und doch verehrt man ihn unter der Gestalt eines Ungeheuers, halb Eber und halb Löwe, wie er menschliche Eingeweide zerreißt, oder als Pferd, mit einem Schwerte gerüstet, auszutilgen die Gegenwart und die Erde zu zerstören; zum Sekundanten geben sie ihm einen Drachen, berufen, mit gespieenen Flammen die Himmelskörper zu verzehren. – Die dritte Person ist der Gott der Verwüstung – Schiwa! und mit der nämlichen Consequenz des Widerspruchs gibt ihm die Priesterweisheit das Zeichen der Erzeugung zum Sinnbilde. Schiwa und seine Sippschaft, männlichen, und weiblichen, und Zwittergeschlechts, finden noch allein Anbeter in Menge, und die Bacchanalien, ihre Feste, die Theilnahme der grob-sinnlichen Massen. Alle diese Götter, – so versichern die schlauen Priester! – bedürfen nichts; und doch fordern sie ihre Verehrer unaufhörlich zu Gaben auf; sie sind allmächtig, sagen sie, und erfüllen die Welt; und doch bannt ein bettelnder Brahmine sie mit einigen Worten in einen Götzen, oder in ein Gefäß, um nach Willkühr ihre Gunst zu verkaufen; sie sind, sagen sie, ein Muster der Keuschheit und Schamhaftigkeit; und doch machen sie die Wollust zu ihrem Ritus, und lassen das unzüchtige Bild des Lingam öffentlich mit Blumen krönen und mit Milch und Honig besprengen. –

Zu allen Zeiten und bei allen Völkern war der Geist des Priesterthums gar selten ein guter Geist, und in seiner Ausartung war er stets für die Menschen ein Herd der sittlichen Fäulniß und der Verdummung. Indessen hat nie eine Priesterkaste in dem Betruge leichtgläubiger Nationen es so weit gebracht, als die Brahminen. Ihre Geheimlehre enthüllt den Geweiheten das raffinirteste System zur völligen Unterjochung des menschlichen Geistes, und reduzirt ihr Können und ihr Wissen auf die Kunst des Betrugs und der Arglist. In der Religion erkennen sie blos das bequemste Werkzeug zur Verhüllung ihres Geizes, ihrer Habsucht und ihrer Faulheit; in dem Vorgeben, mit Geistern in Gemeinschaft zu stehen, den leichtesten Weg, den eigenen Willen als Orakel zu verkündigen. Sie behaupten, in den Sternen lesen zu können, als Mittel, das Schicksal der Menschen nach ihren Absichten

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1838, Seite 222. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_5._Band_1838.djvu/230&oldid=- (Version vom 10.9.2024)