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wurde der Ort jährlich von 15–20,000 Pilgern besucht, und Unglücksfälle, durch die Gefahren des Wegs, geschahen jährlich zu Hunderten. Seitdem die Engländer den Himalayah so häufig, wie die Berner Alpen, durchstreifen, sind auch die Pfade hieher sicherer und bequemer hergestellt worden; aber die Frequenz dieses berühmten Wallfahrtsortes hat sich gegen sonst um Neunzehntel vermindert, obschon die Brahminen fortfahren, seinen Besuch als das Gott wohlgefälligste Werk zu preisen.




CCXXIX. Die Cathedrale in Sevilla[1].




In Cadix – so sagt das spanische Sprichwort – wohnt das Vergnügen, in Sevilla die Religion. Nicht die Religion, die im Herzen stille Feste feiert, und die den großen Gott durch anspruchlose Tugend ehrt; sondern ihre prahlende After-Schwester in Uniform und Purpur. Mönchskutte und Nonnengewand begegnen zwar jetzt nicht, wie früher, bei jedem Schritte in Sevilla; aber die durch Jahrhunderte genährte Volkslust an religiösen Schaugeprängen und Prozessionen hat das Dekret der Cortes, welches die Klöster aufhob, noch nicht gemindert. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend rufen ununterbrochen die Glocken zu den unzählichen Kirchen, und wenn das betäubte Ohr die Ruhe sucht, mahnt dich das sonore Geläute der Cathedrale zum mitternachtlichen Gebete, oder Trompetenton und Fackelleuchten schreckt dich aus dem ersten, sanften Schlafe und an’s Fenster. Was ist’s anders, als eine neue Variation des alten Thema’s? Lange Reihen von auf hohen Stäben getragenen Wachskerzen schweben vorüber und leuchten einem unabsehbaren Zuge. Voran die glitzernde Fahne von Goldbrokat, Meßner in den weißen Gewändern, mit den kostbaren Gefäßen voll Weihrauch; andere mit silbernen Lampen; dann ein Märtyrerbild, oder eine heilige Jungfrau, im Staatsgewande und strahlend von Gold und Edelsteinen, thronend auf hohem Gerüste, das unsichtbare Träger verbirgt. Weiß gekleidete Kinderschaaren streuen Blumen, und Colonnen verschleierter Mädchen und Frauen folgen und singen Hymnen. An sie reihen sich die männlichen Choristen, und eine lärmende, betäubende Janitscharen-Musik macht den profanen Beschluß.

Für dergleichen religiöses Gepränge, wodurch sich Sevilla noch immer vor allen andern Orten Spaniens


  1. Vergl. die eine allg. Ansicht von Sevilla begleitende Beschreibung im IV. Bd. S. 85.
Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1838, Seite 192. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_5._Band_1838.djvu/200&oldid=- (Version vom 11.9.2024)