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CCXXVII. Die Gleichen in Thüringen.




Jede Zeit erhielt von der ewigen Weisheit ungefähr das gleiche Maß von bildenden Kräften zur Ausstattung. Nur in der Anwendung derselben sind die Zeiten verschieden. Während die Gegenwart sie auf dem breiten, empirischen Grunde des Nützlichen praktisch entwickelt, räumt sie doch willig der Vergangenheit in allem Höheren, Idealen den Vorzug ein.

Jede Thätigkeit erkennt man am sichersten an ihren Früchten. Wenn dieß wahr ist, dann wird die Geschichte leicht belehren, welche Fülle das Mittelalter und zwar zu allermeist in Deutschland hervorgetrieben. Dreist darf es sich mit der Neuzeit messen, sowohl nach ihren äußern Formen, als nach ihren geistigen. Unsern Kanälen, Brücken, Viadukten, Eisenbahnen hält sie siegreich ihre Münster, ihre Kaiserburgen, ihre Fürsten und Ritterschlosser, ihre Abteien entgegen; in der Kunst stellt sie unserem Cornelius, unserem Overbeck und Thorwaldsen, in ihrem Van Eyck, Dürer und Peter Vischer mehr als ebenbürtige Namen entgegen, und in Bezug auf Staatsentwickelung und Gesetzgebung unsern Verfassungen ihre Institutionen, deren tiefer Sinn schon die oberflächlichste Betrachtung entdeckt und die tiefste nicht ergründet, in denen Alles harmonisch zusammenstimmend in einen schnellkräftigen, gesunden, blühenden Staatskörper sich vereinigt. Selbst bei den Wettkämpfen der Philosophen, der Gottesgelehrten und Scholastiker, unähnlich den Federkriegen der Neuzeit, sehen wir eine lebendige Gymnastik, die im Innersten erfreut. Sie wurden, gleich den Uebungen der körperlichen Kraft und Gewandtheit in den Ritterspielen, gehalten vor den Augen der theilnehmenden Nation; es waren wahre Turniere, in welchen die Geister eine Gewandtheit und Schärfe erlangten, an die wir nicht von ferne mehr reichen. Bei aller Bereitwilligkeit zur Anerkennung des Guten in der Gegenwart und ihrer unendlichen Vorzüge in Betreff der praktischen Anwendung ihrer bildenden Fähigkeiten ist doch durchaus nicht in Abrede zu stellen, daß das Mittelalter in seinem ganzen Thun und Wesen eine Tüchtigkeit, Lebendigkeit und Innigkeit entwickelt, von der uns kaum ein Begriff mehr übrig ist.

Auch ihr, ihr traulichen Ueberreste verhallter Jahrhunderte, die ihr Thüringens schönste Fluren, gleich halbversunkenen Grabsteinen einen blühenden Friedhof, überragt, zeugt rühmlich von deutscher Vorzeit. Wehmüthig betrachte ich euch im Bilde; denn ich gedenke eurer als das Lieblingsziel meiner einsamen Wanderungen, als den Ort, wo ich, als Knabe, schöne Lebensträume geträumt. Wie oft saß ich auf den erkletterten Zinnen eurer grauen Warten, des Untergangs der Sonne zu harren, den trunknen Blick in ihr Feuermeer zu tauchen, oder ihn schweifen zu lassen über die vergoldeten Fluren und schimmernden Wälder! Wie oft, wenn ich in diesen Ruinen wandelte, zog die Sage

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1838, Seite 180. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_5._Band_1838.djvu/188&oldid=- (Version vom 6.9.2024)