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CCXXIII. Frauenstein bei Freiberg
im Erzgebirge.




Es giebt Worte und Namen, mit denen irrige Vorstellungen sich erblich verknüpfen. Hört man z. B. vom Erzgebirge und Bergbau, so denkt man sich gewöhnlich eine Landschaft voll großer, steiler Berge, tiefer Thäler und finsterer Schluchten, in denen der Bergmann den Weg gleichsam angebahnt findet zu den Eingeweiden der Erde. Es kann nicht fehlen, daß der Reisende, der unter so falschen Vorstellungen in die Freiberger Gegend kommt, sich unangenehm getäuscht findet; denn statt der erwarteten Gebirgswelt, in der, aus tiefen und wilden Thälern, spitze Kegel und rauhe Felswände aufragen, findet er nur sanft ansteigende Höhen und freundliche Gründe, die sich oft in ausgedehnte Ebenen ausbreiten.

Das Hauptthal bildet die Mulde; sanft erheben sich die Thalwände und nur die kleinen, jenem Gewässer zuströmenden Bäche geben hin und wieder der Landschaft ein stückliches, zerrissenes Ansehen. Doch gerade da, wo das Gebirge am meisten der Ebene sich nähert und mit einem geringen Neigungswinkel südwärts fortzieht, ist der Hauptsitz jenes seit 6 Jahrhunderten blühenden Bergbaus und die weltberühmte Lagerstätte edler Metalle, welche, nach unermeßlicher Ausbeute, noch immer unerschöpflich scheint. Frauenstein, die uralte Residenz der Burggrafen von Meißen, auf einem Porphyrfelsen unweit des gleichnamigen Städtchens, gilt gewissermaßen als der südliche Grenzstein, als der Thorwart dieses, so große Schätze verbergenden Reviers, und von seinen verfallenen Thürmen überschaut man es eines Blickes bis zu den Mauern des 4 Stunden fernen Freibergs. Weiter aufwärts nach Böhmen zu wird das Gebirge steiler, zerrissener, der edle Geschicke führende Gneis kommt nur noch in einzelnen Parthien vor, und der ärmere Porphyr wird das herrschende Gestein. Wegen der äußerst starken Bevölkerung (das 3 Quadratmeilen große Grubenrevier beschäftigt durch den Bergbau an 6000 Menschen) ist die Cultur der Gegend ungewöhnlich groß, die Wälder sind (bis auf die sogenannte Zellische Holzung) längst ausgerodet, Ackerland, Wiesen und Gartenbau traten an ihre Stelle.

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1838, Seite 161. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_5._Band_1838.djvu/169&oldid=- (Version vom 28.10.2024)