Seite:Meyers Universum 5. Band 1838.djvu/165

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.

Bogen in der gewöhnlichen maurischen Hufeisenform ruheten. Uebrigens war alles leer und öde; und der Unrath von Vögeln, der auf dem Boden lag, gab ein übles Zeugniß von der Tüchtigkeit der Fenster. Von da passirten wir eine Menge Gemächer, meistens klein und unansehnlich, oft schmutzig bis zum Ekel und meistens durch winkliche Corridors mit einander verbunden. Ich hatte es anders erwartet, war getäuscht und verlangte, müde etwas zu besehen, was nicht des Besehens werth war, zurück. „Ich will nur noch einen Kranken besuchen,“ antwortete der Corporal und öffnete eine kleine verschlossene Thüre, vor der wir standen. Ein hoher, ehrwürdiger Greis trat uns entgegen; sein kahler Kopf war voll Ausdruck. Der Corporal fragte ihn, ob er was essen wolle. „Nein,“ antwortete der Alte; „aber bringt mir einen Krug frisches Wasser. Ich bin sehr durstig. Der Kleine da holt mir’s wohl,“ setzte er hinzu, und auf einen Wink des Corporals nahm mein Bube den Krug und eilte damit fort. Ich sah mich um in der engen Zelle. Sie ließ kaum für uns den nöthigen Raum übrig; hatte aber eine köstliche Aussicht über das Thal und den Wald in’s Gebirge. Die Geräthe bestanden aus einem Rohrstuhle, einem Tische und einer Bettlade mit ein Paar Matratzen. Auf dem Tische lag ein Gebetbuch, einige Papiere, Winkelmaß und Cirkel. Ich äußerte dem Greise meine Theilnahme und den Wunsch, etwas von seinem Schicksale und der Ursache zu erfahren, die ihn hierher gebracht hatte. „Sie vermuthen einen Carlisten in mir;“ – sagte er gelassen; „aber Sie irren. Ich büße das Verbrechen, den Versuch gemacht zu haben, meinem unglücklichen Sohne das Leben zu retten. Dieser, taub meinen Bitten, war der Fahne des Prätendenten gefolgt. Die Guerilla, welche er befehligte, wurde zerstreut. Verfolgt, floh er des Nachts in’s väterliche Haus. Er war mein einziges Kind. Ich hielt ihn wochenlang verborgen. Vergebens. Entdeckt, wurde er zum Richtplatze geführt. Grausam machte man mich zum Zeugen seines Todes, und der Akt der Vaterliebe wurde interpretirt als Beweis Carlistischer Gesinnung. Die Regierung dekretirte Confiskation meines Vermögens und gab mir diese Zelle zur Wohnung. Hier bin ich nun seit drei Jahren. Aber der Abend meines Lebens ist vorüber gegangen und die Nacht bricht schnell herein. Ich bin nicht unglücklich; – ersparen Sie sich,“ – sagte er, mich mit heiterm Blick fixirend, – „das Wehgefühl des Bedauerns, das ich in Ihren Augen lese.“ Ich frug ihn, ob er keinen Freund, oder Bekannten in Madrid habe, der sich seiner annehmen könne. „Lassen Sie das,“ antwortete der Alte; „meine Zelle ist mir der liebste Aufenthalt auf der Erde geworden; Befreiung hoffe ich nur von oben.“ Ich suchte das Gespräch ab und auf die politischen Verhältnisse seines Vaterlandes zu lenken. Er schien mit den Ereignissen der Gegenwart bekannt, und seine Theilnahme doch etwas lebendiger zu seyn, als ich nach der vorhergehenden Aeußerung vermuthen durfte. Er sprach mit Kürze und Bestimmtheit und dem Freimuth eines Mannes, der das Leben mit seiner Furcht und seinem Hoffen hinter sich liegen hat, wie eine vollendete Reise. „Spanien lebt,“ sagte er, „in einer Uebergangsepoche. Jede Verwandlung ist Qual, und daß lebende Geschlecht fühlt ihre Schmerzen, ohne ihre Lust zu genießen. Ich habe den Prozeß seit 50 Jahren

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1838, Seite 157. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_5._Band_1838.djvu/165&oldid=- (Version vom 4.9.2024)