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Erst wenn man die mittlere Bergkette überstiegen hat, treten die Schneegebirge Thibets, (der eigentliche Himalayah,) die sich seit dem Verlassen der Ebene den Blicken gänzlich entzogen hatten, wieder vor’s Auge. Ihr Anblick ist zermalmend, und Worte sind unfähig, die Majestät und Pracht derselben zu schildern. Weder die Savoyschen Alpen, noch Norwegens großartige Gebirgsnatur, noch die des Kaukasus geben einen Maaßstab, sowohl in Hinsicht der Pracht der Gruppirung, als des Riesenhaften aller Verhältnisse. Kein Menschenauge, das diese Alpenwelt zuerst erblickt, bleibt ohne Thränen der Rührung, oder unergriffen von der Herrlichkeit und Größe ihres Schöpfers.

Besonders imposant ist der Blick in den Himalayah von dem Dorfe Kursalee aus, das auf dem Plateau der mittlern Gebirgskette, unfern von der Schlucht liegt, die sich der Jumna, 600 Fuß tief, in den Felsen gewühlt hat. Fast 7000 Fuß hoch über der bengalischen Ebene gelegen, besteht es aus etwa 30 Häusern. Sie werden von Brahminen bewohnt, welche von den Almosen vorüberwandernder Pilger zu den heiligen Quellen des Jumna leben. Der Ort hat ganz das Ansehen eines Schweizer Alpendorfes. Hafer, Gerste, alle Baumarten der deutschen Wälder, kommen gut fort und in den Gärten gedeihen Erbsen, Bohnen und andere europäische Gemüse in Menge. An den Wänden einiger Häuser sind Kirsch- und Pflaumenbäume spaliermäßig gezogen. Die Winter sind zwar lang und strenge: aber die rasche Entwickelung der Vegetation in den Sommermonaten entschädigt wieder.

Von diesem Punkte breitet sich das Hochgebirge fächerartig aus. In einem Halbkreise von etwa 30 deutschen Meilen öffnet sich dem Blicke eine Welt des Todes, in der sich Gletscher auf Gletscher thürmen, Schneewüsten über Schneewüsten ragen. Pyramidenförmig steigen Bergriesen[1] aus ihnen empor und zittern wie Geistergestalten in dem Blau des Himmels. Aber ich bekenne mein Unvermögen, solche Szenen zu malen und lege den Griffel nieder.




  1. Die Höhe dieser für immer unersteiglichen Gipfel ist, nach den englischen Messungen, 22–26000 Fuß über der Meeresfläche. Der Kaukasus, nach dem Himalayah das höchste Gebirge Asiens, hat nur 17,000 Fuß. Der Chimborasso in Peru ist noch nicht 20,000 Fuß hoch; der Montblanc nicht viel über 14,000. Jene Piks wurden also den letzteren um fast 12,000 Fuß überragen.
Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1838, Seite 152. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_5._Band_1838.djvu/160&oldid=- (Version vom 4.9.2024)