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CCXXI. Der Himalayah.




Die glühenden Ebenen von Hindostan sind dem Europäer im Sommer Kerker, und die Sonne ist sein Gefangenwärter. Er darf dann, außer am späten Abend und in der frischen Morgenstunde, nicht wagen, seine Wohnung zu verlassen. Die Meisten, welche diese Regel vernachlässigen, raffen Typhus und Fieber hinweg.

Bevor die Britten ihre Herrschaft über Hochindien ausgedehnt und befestigt hatten, war es ihren Beamten vergönnt, zu ihrer Erholung jährlich einige Monate in die gesünderen Seestädte zu ziehen, und viele brachten ihre Urlaubszeit auf dem Kap zu. Seit zwei Jahrzehnten hat sich dieß geändert. Im unbestrittenen Besitz der ganzen südwestlichen Seite des indischen Hochalpenlandes haben die Britten aus den Ebenen bequeme Fahrstraßen in jene Gebirgswelt gezogen, und mit dem Eintritt der heißen Jahreszeit wandern sie aus den Städten der Niederungen schaarenweise in ihre asiatische Schweiz, wie die Engländer in der Heimath in die europäische ziehen. Auf jene langen Ferien hofft der Beamte und Kaufmann in Indien, wie der Gefangene auf seine Befreiung. Schon Wochen vorher sieht man überall in den Häusern die Vorbereitungen zum Umzug. Es werden Vorräthe gerüstet, Kisten und Körbe gepackt, und Saumthiere, beladen, vorausgeschickt. Befreundete Familien treten in Gesellschaften zusammen, und der Tag des Aufbruchs ist ein Tag des Jubels. – Zuerst wird die bengalische Ebene durchzogen. Auf den trefflichen Heerstraßen geschieht dieß schnell, und das Aufsteigen beginnt. Anfänglich ist’s kaum merklich. Der Weg geht durch Wälder, die das Hochgebirg in seiner ganzen südlichen Ausdehnung umsäumen. Prachtvoller Baumwuchs entsproßt dem von tausend Quellen befeuchteten Boden, und Lianen und blühende Schmarotzerpflanzen aller Art knüpfen die Riesen der vegetabilischen Welt mit bunten und grünen Guirlanden anmuthig zusammen. Ueberall ist Kraft und Fülle einer noch jungfräulichen Natur. Man hört Vögel singen, und das widrige Geheul der Schakals und Tiger der Ebene erschreckt nicht mehr. Feierlich rauscht’s in den hohen Wipfeln, und man athmet schon erquickende, balsamische Gebirgsluft.

Der Waldgürtel des Himalayah ist wenig bevölkert. Es bewohnen ihn Hirten, die ihre Heerden im Walde weiden lassen, Honig und andere Produkte sammeln, und sie gegen die Artikel der Ebene tauschen. Ihre

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1838, Seite 150. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_5._Band_1838.djvu/158&oldid=- (Version vom 4.9.2024)