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Auch dir, ehrwürdige, so plump mißhandelte Georgia Augusta, ist der neue, glänzende Tempel, den dir ein freundlicher Fürst gebaut, ein Leichenhaus, so lange die Stunde der Verklärung dir nicht geschlagen, welche dir weniger als irgend einer deiner Schwestern vorenthalten seyn wird. Ueber dem Zifferblatt, das jene Stunde zeigt, hat die Zukunft ihren Schleier geschlagen; wir wissen nur so viel: was dir geschehen ist und noch geschehen mag im Geiste des Geschehenen gegen den Naturgang der Dinge, das muß, indirekt, früher zum Ziele führen. Wenn die Zeit wird kommen, wo ein Gedanke alle Köpfe wie ein Contagium entzündet, wo eine Idee, in lichtem Schimmer aufgelöst, durch die Pforten der Sinne einzieht in alle Geister, dann wirst auch du von neuem einziehen in deinen Tempel, und eine zweite Weihe wird ihm werden, schöner, als die jüngstvergangene.


Göttingen, (12,000 Einw.), eine alte, doch eine der freundlichsten Städte Norddeutschlands, in einer schönen und fruchtbaren, gegen Süden von den Vorbergen des Harzes geschlossenen Gegend, ist weltberühmt durch seine Universität, die der englische König Georg II. unter dem Namen Georgia Augusta 1737 stiftete. Der freie, ächt-wissenschaftliche Geist, und die liberalen, fast kosmopolitischen Tendenzen, welche sich sogleich bei der ersten Besetzung ihrer Lehrstühle offenbarten und ungestört fortbildeten, verliehen der Universität eine nicht sowohl nationale, als europäische Bedeutung. Ausländer kamen zu Tausenden hierher. Die mit englischer Freigebigkeit dotirten Lehrstühle nahmen fast stets Männer ein, welche, im Phalanx des gelehrten Europa, als die ersten ihres Fachs, in den vordersten Reihen glänzten. Die Namen Tychsen, Langenbeck, Blumenbach, Heeren, Lücke, Ewald, Hugo, Meister, Bergmann, Beier, Stromeier, Osiander, Gans, Schütze, Hausmann, Müller, Wendt, Mitscherlich etc. etc., bilden einen Zyklus, wie ihn, gleichzeitig, keine andere Hochschule aufweisen kann.

Ein würdiger, ächt vornehmer Ton, der von jeher in Göttingen in dem Lehrerkreise herrschte, und der durch die Menge von fürstlichen Personen, welche ihre Studien hier machten, unterstützt und getragen wurde, mußte nothwendig auch auf den Ton unter den Studenten überhaupt zurückwirken. Dieser war stets anständig und freier von burschikosen Rohheiten, als sonst wo. Der Aufenthalt ist übrigens an keiner andern deutschen Universitätsstadt so kostbar wie hier; ein Umstand, der sich leicht erklären läßt.

Zur Zeit der höchsten Frequenz hatte Göttingen 1800 Studierende. Wegen der regen Theilnahme der Göttinger an der Burschenschaft, dem Wartburgfeste und anderen, die Regierungen ängstigenden Erscheinungen der damaligen Zeit wurde durch gemeinschaftlichen Beschluß ein zweijähriger Verruf über Göttingen ausgesprochen, welche Maßregel die Universität verödete und die Zahl ihrer Besucher auf 400 herab brachte. Göttingen erhob sich seitdem nie wieder zum früheren Glanze. Seine Schicksale in neuester Zeit sind zu frisch im Andenken aller Leser, um mehr als der bloßen Hindeutung zu bedürfen.

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1838, Seite 135. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_5._Band_1838.djvu/143&oldid=- (Version vom 3.9.2024)