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Man bindet sich hier nicht an gewisse Gebräuche und Gewohnheiten, welche so oft in beengende Regeln ausarten, die niemand gern überschreitet, obschon er ihr Zweckwidriges fühlt. Jeder wählt nach seinem Geschmack Gesellschaft oder Einsamkeit, was dem wahrhaft Gebildeten nur angenehm seyn kann, und trotz der großen Menge von Personen aus den höchsten Ständen, welche Marienbad jährlich unter seinen Besuchern aufzählt, blieb es noch immer frei von Prunk und Etikette. Bälle und Reunions sind selten; noch seltener Konzerte. Das Theater wird in der Regel wenig besucht. So ist denn die Gesellschaft auf den Genuß der Natur hingewiesen, auf die Versammlungsplätze im Freien, und besonders auf die Colonnaden, welche, vorzüglich in den Abendstunden, alles, was Marienbad an Kurgästen umfaßt, zusammenführen. In wenigen Tagen hat da jeder seine Wahlverwandtschaft ausgemittelt; aber bekannt werden bald Alle miteinander, und es schmilzt gewissermaßen die ganze Gesellschaft in eine große Familie zusammen, die sich zu Ende der Saison, je kleiner sie wird, um so enger an einander schließt. Hier herrscht Anstand ohne Zwang. Versuchung zum Spiel und zu höfischen Exklusivitäten ist gar nicht da; denn die Gelegenheit fehlt, die Beschränkung des Lokals läst sie nicht zu, und wo Allen die Kur als Hauptsache gilt, findet die Lust Einzelner an Cotterien und ihrem Gefolge nie großen Anklang.

Die zahlreichen Heilquellen entspringen sämmtlich dem weiten Bergbusen, um den her der Ort gebaut ist. Die berühmtesten sind der Kreuzbrunnen und der Franzensbrunnen, welche beide wegen ihrer Heilkräfte schon in uralter Zeit, ehe die gebildete Welt von ihrem Daseyn Notiz nahm, in Ruf und Ansehen standen. Aus dem Kreuzbrunnen wurde sonst auch Glaubersalz gesotten, dessen Bereitungskunst in einer armen Familie seit ein paar Jahrhunderten fortgeerbt haben mochte. Eine elende Hütte war die Saline, ein paar kleine, eiserne Kessel der Apparat. Um die Quellen herum waren Sümpfe; Felsgeschiebe und eingelegte Bäume dienten als Stege den Kranken, welche sich in einem großen, hölzernen Troge, im Freien, badeten. Ueber und über war der Trog mit kleinen, hölzernen Tafeln benagelt, und eben so die Stämme der umstehenden Bäume, auf welchen, unter einem biblischen Denkspruch, die Namen Derjenigen zu lesen waren, welche dem Wasser ihre Heilung verdankten.

Nicht prunkvoller war die Einrichtung an der Ferdinandsquelle, der fernsten, und schon außerhalb Marienbad befindlich. Auch dort war ein viereckiger, hölzerner Kasten, von einer Buche beschattet, das gemeinschaftliche Badehaus. Man hieß ehedem die Quelle den Salzbrunnen, bis sie, nach der 1819 geschehenen schönen Fassung und Ueberbauung, zu Ehren des damaligen Kronprinzen, jetzt Kaisers von Oesterreich, ihren jetzigen Namen bekam. Anmuthig liegt sie am Saume eines gegen Morgen hinan steigenden Waldrückens, über den sich Spaziergänge mit Ruhesitzen schlängeln, von denen man einige schöne Blicke, besonders bei günstiger Abendbeleuchtung, genießt. Der Quell selbst springt unter einem von Säulen getragenen, offenen Tempel, von welchem 2 herrliche Colonnaden, deren Rückwände geschlossen sind, auslaufen, die in Pavillons endigen. In dem einen ist Restauration, im andern ist das Magazin für die Versendungen des Wassers in Krügen, das Comptoir und die Wohnung des Geschäftsführers. Vor den Gebäuden breiten sich freundliche Gartenanlagen im englischen Geschmacke aus.

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1838, Seite 130. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_5._Band_1838.djvu/138&oldid=- (Version vom 3.9.2024)