Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band | |
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Die Ungarn sind große Schauspielfreunde. Jede der größeren Städte hat ein Theater. Doch nur Pesth und Ofen besitzen stehende Truppen; die übrigen sind von wandernden besucht. Vaterländische Sujets erregen grenzenlosen Enthusiasmus, und es ist schon oft geschehen, daß bei solchem Anlasse der Autor von dem begeisterten Auditorium auf den Schultern umhergetragen worden.
Das Wort Polizei ist dem Patrioten verhaßt. Entschlüpft einem Fremden das Wort, so wird er schnell belehrt, daß es in Ungarn keine Polizei gebe, da es ein freies Land sey. Dieß legt denn auch der öffentlichen Ordnung manches Hinderniß in den Weg; das Vagabundenwesen ist arg und Räuberbanden sind eben nichts seltnes. Die Freiheit des Bettelns gehört so zu sagen zu den öffentlichen Freiheiten. „Wer nicht will geben, kann lassen bleiben,“ sagte ein Ungar, als man ihm das Widrige dieses öffentlichen Uebelstandes vorstellte. „Ungarland, setzte er hinzu, „ist freies Land; wer nicht thut Schelmenstreich und respektirt Constitutio, kann machen, was er will.“
Die Polizeidirektoren in den Städten heißen Stadthauptleute. Ihr Wirkungskreis ist sehr beschränkt, ihre Verfügungen gelten nur für die untern Stände; dem Adel zu befehlen, wagen sie nicht. Die Stadtsoldaten hüten sich wohl, mit der privilegirten Kaste sich in Conflikt zu setzen. – Daß das Tabaksrauchen zu den ungarischen Nationalgenüssen gehört, und die Meerschaumpfeife sehr in Ehren gehalten wird, hatte ich von Andern gehört; aber ich hatte mir nicht vorgestellt, daß man ihr eine so abgöttische Verehrung zollen könne. Der ächte Ungar wagt nie, seine Lieblingspfeife mit unbekleideter Hand zu berühren; außer dem Gebrauch ruht sie, in weiche Seide gehüllt, auf einem Kissen voll des zartesten Pflaums.
Der Ungar ist gastfrei, treu, edelmüthig, tapfer im höchsten Grade; aber Leidenschaftlichkeit und Zanksucht, die sich in oft blutigen Schlägereien äußert, sind unter den niedern Ständen allgemein.
Außer den Magyaren, oder eigentlichen Ungarn, sind sehr viele Juden, Griechen, Deutsche, Slawacken, Wallachen und Zigeuner zu Tausenden im Lande. Die ersten treiben, wie überall, Handel und Schacher, und wohin der christliche Handelsmann erst gehen will, da sind sie schon längst gewesen. Reiche und Elegants findet man unter ihnen Viele. Das Volk, das sie aussaugen, haßt und verachtet die Hebräer; sie sind eine Landplage, wie überall; aber es kann nicht von ihnen loskommen. Nach seinen Begriffen gibt es keinen ärgern Schimpf für sein Vaterland, als wenn es der Fremde „Judenland“ heißt.
Unser Heeren nennt die Ungarn „ein edles Volk, ein Volk voller Zukunft.“ Gewiß mit Recht. Möge nur die Sonne der Bildung, die bis jetzt ausschließlich den bevorrechteten Ständen geschienen, erst die Masse durchwärmen, dann wird auch die jetzt noch blinde Vorliebe für das Bestehende kein Hinderniß mehr für nothwendige Reformen seyn.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1838, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_5._Band_1838.djvu/118&oldid=- (Version vom 18.10.2024)