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CCX. Antiochien in Syrien.




Schwacher Sterblicher, der du vor Allem zitterst, was dich an deine und deiner Werke Vergänglichkeit erinnert, trete an den Sarg einer Königin unter den Städten deiner Erde. Schaue auf! Dieser Haufe Ruinen, auf der ein neues Geschlecht niedrige Wohnungen gekleibt hat, Schwalben gleich an das verlassene Nest des Adlers, war die große Antiochia. – Nur ihr Name klingt noch und die Namen ihrer großen Männer; alles andere schweigt, selbst der Fußtritt der Jahrhunderte schleicht leise und unbemerkt neben ihrem Grabe hin. Alles Herrliche an ihr ist vergangen. Ihre Palläste, ihre Tempel, ihre Theater, Siegespforten und Ehrensäulen modern aufgelöst in chaotischem Schutt, oder, von der Hand der Zeit zu Staub gemahlen, sind sie verweht in alle Winde.

Armer Sterblicher, der du dein Stückchen Augenblick, das dein Geschlecht zu leben hat, von jeher mit der Ewigkeit verwechseltest, und das Sandkörnchen im Reiche Gottes, deine Erde, mit dem unendlichen All: es kommt die Zeit, wo auch das letzte Sonnenstäubchen der letzten Menschenwohnung im Aether sich wiegt, und alle Städte und Namen vergangen sind, wie der Hauch eines gestorbenen Kindes. Aber was liegt Erschreckendes in den Gedanken an die Hinfälligkeit deiner Werke? hat Gott nicht selbst den Seinigen die Dauer ihres Daseyns beschränkt? gab er seinen Welten mehr als einen Tag von seiner Ewigkeit? Siehst du nicht Planetentrümmer um die Sonnen fliegen? weißt du nicht, daß ganze Sonnensysteme, aufgelöst, um größere, unbekannte Sonnen kreisen, und chaotische Welten, aus lauter Weltruinen zusammen gesetzt, im unendlichen Raume ziehen? Aber Gott trägt die Särge seiner gestorbenen Welten leicht im Arme; Engel macht er aus den Weltenseelen, und in tausend Milchstraßen schimmern friedlich, nach wie vor, die Lichter seiner Himmel. Darum – denn was Gott seinen Schöpfungen versagt, kann er deinen nicht gewähren, – erschrecke nicht, wenn du die Uhr ausheben hörst, welche einem Menschenwerke die letzte Stunde schlägt. Hübe sie aber aus, um die deinige zu schlagen, und du hörtest es, – dann sey freudig! Denn, vergiß es nicht! höchste Geisterweihe bringt die Sterbestunde und der Unsterblichkeit Kranz reicht der Tod dir. –


Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1838, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_5._Band_1838.djvu/106&oldid=- (Version vom 26.8.2024)