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sieht; seine Venus, seine Psychen und Danaen wirken auf den Beschauer wie wirkliche Wesen; in ihnen glüht das Leben der ewigen Jugend. Adam und Eva, von demselben Meister, ist ein Wunder der Kunst. Rubens, der große Rubens, versuchte dasselbe zu copiren. Er versuchte Unmögliches. Man kann die Copie nicht ansehen, ohne den großen Niederländer zu bedauern, und ohne die Entfernung inne zu werden, die, in Bezug auf Kunstvortrefflichkeit, ihn und alle andern Nachfolger und Nachahmer des Venetianers von diesem trennt. Aber die Krone aller Kunstschätze hier und in ganz Spanien ist die Kreuztragung des Herrn, jenes unter dem Namen LO SPASIMO DI SICILIA allbekannte, und durch Toschi’s Grabstichel in unsern Tagen so trefflich wiedergegebene Bild Raphaels. Dieses eine Bild ist manche Königsgallerie werth, und wirklich wurden dafür schon Millionen geboten.

Ich unterlasse eine weitere Beschreibung der Kunstschätze, mit welcher, bald reicher, bald ärmer, jedes Gemach und jeder Salon der königlichen Wohnung ausgestattet ist. Sie würde den Leser nur ermüden. Uebrigens denke er nicht, daß hier nur Treffliches zu finden ist; vieles Mittelmäßige ist auch da mit dem Guten und Besten zusammen gemengt, und nur erst in neuester Zeit ist es versucht worden, das ganz Unwürdige zu entfernen, und mit guten Bildern (die Kunstbeute aus aufgehobenen Klöstern) zu ersetzen.

Gegenwärtig ist nur ein kleiner Theil des Pallastes bewohnt. Für den Hof der Königin Wittwe und Regentin, der üppigen Christine, paßt dieses unermeßliche Haus, wie eine Peterskirche für eine Dorfgemeinde. An der Hand meines Führers durchwanderte ich unabsehbare Reihen von kostbar meublirten Zimmern und Sälen, in welche seit mehren Jahren, außer den Fremden, Niemand gekommen war. Im Staube, der auf den Fenstergesimsen, auf den Rahmen der Bilder, auf dem Schnitzwerk an den Wänden und den Stukkaturen der Decken lag, erkannte man ihre Verlassenheit. Häufig hatten Spinnen ihr Netz ausgespannt, und zwei- oder dreimal bemerkte ich große Fledermäuse in den Vertiefungen der Deckenverzierungen sitzen, die ihren Ein- und Ausflug durch ein paar zerbrochene Scheiben suchen mochten, die wohl schon lange auf Ausbesserung harrten. Unwillkührlich dachte ich an das Schicksal der Klöster, die ich vor 10 Jahren voll üppigen Lebens, jetzt todt und öde fand. Mir kam es vor, als seyen jene zerbrochenen Scheiben die ersten Axthiebe der Zeit an den Baum eines Aberglaubens anderer Art. Abgeärndtet ist er ja längst, dachte ich, warum sollte die Zeit zaudern, ihn abzuhauen, auf daß seine Wurzeln zum Dünger werden für jüngere Keime! Kraft, am alten, morschen Stamm neue Fruchtreißer zu treiben, haben sie doch nicht mehr und – mit den bloßen Wasserlatten ist’s nicht mehr gethan. Diese sind zu Ruthen zwar gut genug; nur wollen die Nationen nicht alle und immer Kinder seyn.



Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1838, Seite 97. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_5._Band_1838.djvu/105&oldid=- (Version vom 17.10.2024)