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CLIII. Die Kaiser-Gärten bei Nanking in China.




„Sonne des Himmels“ hieß zur Zeit ihres Glanzes Nanking, die Hauptstadt des ältesten Reichs der Erde, und noch gegenwärtig nennt der Chinese sie, wie der Italiener sein Rom, die ewige. Aber ärmlicher als dieses füllt das neue Nanking das Gewand des alten aus, – das Gewand eines Riesen.

Ein und zwanzig Stunden im Umfang messen die Mauern der ungeheuern Stadt. Fast in der Mitte des Raumes, den sie umschließen, ist ein isolirter Felsenhügel. Die Akropolis trug er einst; jetzt Ruinen. Da hinauf muß man steigen, wenn man eine Vorstellung von der einstigen Ausdehnung Nanking’s, und dem Verhältniß des heutigen zum Alten, gewinnen will.

In dem reizenden und mannichfaltigen Panorama, welches sich dort dem überraschten Blicke öffnet, fesselt zuerst der majestätische Yang-tse-Kiang, welcher, größer als die Donau bei Wien, mit vielen Armen ein breites und 8 Stunden langes Thal durchströmt und in blühende Inseln zerschneidet. Mehre freundliche, von Flüßchen und Bächen bewässerte Gründe zwischen holzbedeckten Hügeln, ziehen sich dem Hauptthale zu, und fruchtreiche Felder und lachende Gärten wechseln, so weit das Auge reicht, in der angenehmsten Mannichfaltigkeit. Zwischen ihnen blicken zahlreiche Häusergruppen hervor, welche oft Viertelstunden weit auseinander liegen. Mit ihren schlanken Pagodenthürmen geben sie der Scene das Ansehen einer mit Dörfern und Flecken besäeten, volkreichen, hochkultivirten Landschaft. Nichts in der äußern Erscheinung führt den Gedanken herbei, daß man sich in der Nähe, geschweige im Mittelpunkte einer großen Hauptstadt befinde, und nur eine dicke Rauchwolke, welche hinter einem langen Bergrücken am Himmel hängt, deutet die Lage des heutigen, eigentlichen Nanking an. Ein paar Hauserparthieen am Fuße der Bergkette sind Alles, was sich von ihm erkennen läßt. Dann erst wird man über die Bedeutung seines Standpunktes klar, wenn man mit Hülfe eines guten Fernrohrs den kreisförmigen, weißlich-grauen Streifen untersucht, der sich rund am Horizont hinzieht und man in demselben, nicht ohne Erstaunen, die wohlerhaltene Ringmauer Nanking’s wiederfindet.

Alle diese Ebenen und Thaler und Höhen waren einst angefüllt mit Wohnungen der Menschen, und diese Felder und Gärten grünen und blühen auf dem Schutt von 200,000 Häusern. Denn jenes, jetzt hinter den Bergen versteckte, kaum den fünften Theil des Mauerkreises im Süden ausfüllende Nanking, war noch vor einigen Jahrhunderten