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Stufen hinan bis zum Gipfel; aber nur stellenweise existiren noch Spuren dieser Felsentreppe. Der jetzige Pfad ist zerrissen, und rothe Granitblöcke, die im Wege liegen, machen den Aufgang an vielen Stellen sehr beschwerlich. Nach halbstündigem Steigen gelangt man an einen weit vorspringenden Felsen, aus dessen Tiefe eine ergiebige, krystallhelle Quelle sprudelt, die den vortrefflichsten Labetrunk reicht. Einige ausgehauene, mit Moos bedeckte Sitze bei der Quelle laden zum Ausruhen.

Hat man eine halbe Stunde weiter geklettert, so erreicht man eine kleine Kapelle, der heil. Jungfrau geweiht. Diesem Gebäude gegenüber ist eine hohe Treppe, zwischen 2 Felswänden, unvollkommen in den Granit gehauen, und sie führt zu dem plump gebauten Elias-Kloster, das jetzt unbewohnt ist. Eine Cypresse, von riesenhafter Größe und dem höchsten Alter wiegt sich an der ehrwürdigen Stelle, wo, nach der arabischen Ueberlieferung, Moses die zehn Gebote von Gott empfing. Der Fußsteig wird steiler, schwieriger, bis die oberste Spitze erreicht ist. Sie ist kegelförmig, oben platt, etwa 30 Schritte im Umkreise. Hier steht ein christliches Kapellchen, roh aus Granit aufgeführt, schlecht erhalten, ohne Thüren und Fenster. Auf der andern Seite, etwas tiefer, haben auch die Moslims eine kleine Moschee, die sie in hoher Verehrung halten. Daneben ist eine schöne, runde Cisterne.

Die Aussicht vom Gipfel des Horebs ist bewundernswürdig; man übersieht fast alle Gebirge der Halbinsel und weithin das rothe Meer, mit seinen Eilanden, ja sogar bei ganz heiterm Himmel das ferne Hochgebirge Afrika’s. Die lachende Fernsicht bildet einen seltsamen Kontrast zu der traurigen Einöde des Vorgrundes, den Hinblick in die düstere Felsenwelt und in die öden, alles grünen Schmucks und alles Lebens beraubten Thäler. Aber, obschon für das irdische Auge alles Reizes beraubt, wie vielen bieten des Sinai und des Horebs geheiligte Wüsten dem geistigen! Wie ergreift der Anblick dieser Gegenden, wo Moses, der größte Mann und Gesetzgeber, den nicht nur sein Volk, den vielleicht die Menschheit gehabt hat, die schwerste Sendung vollendete, welche die Vorsehung einem Sterblichen beschieden. Diese Wüsten waren es, die er zur Bildungsschule eines Volks erkohr, das aus einer Sklavenhorde zu einer cultivirten Nation zu erheben, es gegolten! Und wie that er’s! mit welcher Selbstverleugnung ohne Beispiel hat er die erste, hartnäckige Generation durch vierzigjähriges Verweilen in dieser Oede untergehen lassen, bis nach deren Tode ein neues Geschlecht erstand, fähig, sich einzurichten im Lande seiner Väter nach den Gesetzen, die er ihnen entworfen! Wie wunderbar sind sie durchdacht alle diese Gesetze! Wie umfassen sie das Größte bis zum Kleinsten, wie sind sie berechnet, sich des Geistes seiner Nation in allen Umständen des Lebens zu bemächtigen und zu ewigen Gesetzen zu werden? – Und die hauptsächlichsten sind es geworden und werden es bleiben, nicht blos seinem Volke, sondern allen Nationen, denen im Reiche der Bildung eine Zukunft beschieden ist. Oder sind die Gesetztafeln, welche Moses von dem Gipfel des Sinai getragen, nicht die unterste Grundlage aller Civilisation auf Erden? und werden sie je aufhören, es zu seyn?