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unter allen, die ich gesehen, kein schöneres Gebäude im lombardisch-gothischen Style zu nennen, und selbst in der Unregelmäßigkeit seiner Verzierungen sieht man nichts als ein Uebermaß von Reichthum der schaffenden Phantasie. Das Unsymmetrische scheint hier zum höchsten Ebenmaße geadelt. Die Stadthäuser von Paris, Gent, Brügge, Cöln, London, selbst das in Amsterdam, obschon herrlich für sich, würden neben diesem wie eine hübsche Dorfkirche gegen einen Straßburger Münster erscheinen. Welche Begriffe gibt ein solcher Bau von dem Gemeingeist, dem Reichthum und der Kraft einer Bevölkerung, die ihn möglich machten! Das gesammte Vermögen aller Bürger manches Königreichs würde in unserer Zeit nicht Gleiches hervorbringen können, wenn auch die Kunst es noch vermöchte.

Dies Gebäude (aufgeführt im 14ten und 15ten Jahrhundert) bildet ein regelmäßiges Viereck, von dem jede Seite 320 Fuß lang ist. Die dem Markte zugekehrte Hauptfronte ist 120 Fuß hoch, und die Mitte trägt den herrlichen Thurm, ein wahres Wunderwerk, das wie leichte, zarte Filagränarbeit in tausendfach verschlungenen Formen 370 Fuß hoch in die Wolken steigt. Die colossale, 20 Fuß hohe Statue des streitfrohen Himmelsfürsten – Sankt Michael, der den Drachen erwürgt – von vergoldetem Kupfer, prangt auf der Spitze, und mit dem flammenden Schwerte macht er den Wächter der Stadt. Die innere Ausstattung ist des Aeußern ganz würdig. Sie ist die alte geblieben unter dem Wechsel der Zeit und der Herrscher. Alle Räume sind mit den kostbarsten Brüsseler Tapeten behangen, die Decken, Treppengeländer mit kunstvollen Schnitzereien verziert. Der Gemäldeschatz, obschon vielfach beraubt, ist noch immer einer der bedeutendsten in den ganzen Niederlanden.

Durch die RUE DE LA VIOLETTE, in der Richtung nach dem Thore von Namur, kam ich zum alten Getreidemarkte, mit dem ehemaligen Oranischen Palais, jetzt dem National-Museum. Die Sammlungen bestehen aus einer Gemälde- und Antikengallerie, einer Bibliothek von 200,000 Bänden, einem Kupferstich- und einem reichen Naturalienkabinet. Einige der schönsten Piecen sind der königlichen Akademie zum Sitzungslocale angewiesen. Das Gebäude ist im reichen, altgothischen Style und von einem Grafen von Nassau, 1502, vollendet worden, nachdem der Bau schon anderthalbhundert Jahre früher begonnen hatte. – Von hier aus wanderte ich durch die RUE DE L’HOSPITAL und die DE LA MADELEINE; unversehens stand ich vor dem größten Pallaste Brüssels, und mit freudigem Erstaunen las ich über dem Haupteingange Palais de l’industrie. Der Fleiß hatte also hier wirklich sein königliches Haus!

In dieses Pallastes sich an und über einander reihenden Sälen und Zimmern, welche die befreundete Hand der Macht mit königlicher Pracht dekorirt hat, sind alle Erzeugnisse von Belgiens Gewerbthätigkeit zur Schau ausgestellt und dem Geringstscheinenden ist ein Ehrenpläßchen eingeräumt. „Voilà notre galérie de Versailles,“ sagte