Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Vierter Band | |
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Es ist kein Tod in der Schöpfung. Jede Zerstörung macht den Uebergang zu einem höhern Leben, und kann sich eine Kraft nicht mehr fortbilden in der ihr gegebenen Form, hat sie folglich ausgelebt, so ist ein Zerbrechen der Hülle nothwendig und wohlthätig zugleich.
Aber die weise und liebende Natur, welche will, daß sich jedes ihrer Geschöpfe seines Lebens freue, läßt selten ein langsames, qualvolles Hinsterben zu. Sie schuf darum tausend gewaltsame Tode, als eben so viele Mittel, den Uebergang der ewigen Kräfte in höhere Lebensformen zu erleichtern. Wer wollte nicht einsehen, daß solche rasche, gewaltsame Veränderungen nur Verkürzung der Trennungsschmerzen sind, folglich Zeichen der Liebe, mit welcher der Allgeist seine Geschöpfe umfaßt!
Diese zunächst dem Individuum beschiedene Welteinrichtung kommt auch den Völkern und Staaten zu gute. Nach dem Maße von Kräften, die ein Reich in sich vereinigt und solche Kräfte sich, unter gegebenen Umständen und Verhältnissen, wachsend entwickeln können, ist dem Staate seine Lebensdauer beschieden. Hat er den Gipfel seiner möglichen, eigenthümlichen Ausbildung in allen Beziehungen erreicht, dann, weil ein Stillstand nicht denkbar ist, hat mit dem nächsten Augenblick die Periode des Herabsteigens, die seines Verfalls begonnen; er sinkt allmählich in die Klasse der untüchtigen, oder nur noch passiv-nützlichen Werkzeuge, und sofort werden nach des Schöpfers weiser Einrichtung in jedem Staate schlummernde Kräfte der Selbstzerstörung frei und thätig, welche die Auflösung beschleunigen. Dauert dennoch der Auflösungsprozeß manchmal ein Jahrhundert und länger, so kann dieß nicht befremden, wenn wir bedenken, daß ein Leben von vielleicht mehren Jahrtausenden vorausging. Völker und Reiche haben eine zähe Lebenskraft, und ein plötzliches Hinraffen durch Schlagfluß und Mord gehört unter die Ausnahmen.
Das Gefühl der Theilnahme am Unglück Anderer liegt tief in jeder Menschenbrust. Aus dieser Quelle entspringt auch das lebendige Interesse, welches alle untergehenden Reiche und Nationen bei der Mitwelt finden. Zeit und Umstände geben diesem Interesse verschiedene Grade. Wie das Unglück des Großen, Edlen und Tugendhaften immer weit wärmeres Mitgefühl findet, als das eines gewöhnlichen, oder minder würdigen Menschen,
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Vierter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam und New York 1837, Seite 161. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_4._Band_1837.djvu/167&oldid=- (Version vom 2.10.2024)