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Schon in einer Entfernung von mehren Stunden, von den Hügelketten her, welche die weite, sandige, holz- und kornreiche Ebene, in welcher Nürnberg den Mittelpunkt bildet, umgeben, erkennt man die altehrwürdige Stadt mit ihren colossalen Mauerthürmen und ihrer alles überragenden stolzen Akropolis. An Großartigkeit des Ansehens geht sie allen Reichsstädten voran, und nur von Prag wird sie an Reiz und Pracht des Alterthums übertroffen.

Ist der Reisende von den westlichen Höhen in die Ebene herabgestiegen, so verbirgt sich die Stadt hinter dunkeln Wäldern, und erst bei Fürth zeigt sie sich wieder, und da in voller Schöne. Fürth ist ungefähr eine gute Stunde von Nürnberg. Vor einigen Jahrhunderten verbannte ein Beschluß des Raths alle Nürnberger Juden – sie zogen hierher und erhoben ein schmutziges Dorf zur großen freundlichen Tochterstadt, welche jetzt die erste Eisenbahn Deutschlands mit der einst so unduldsamen Mutter verbindet. Was für eine Unähnlichkeit zwischen Ursache und Wirkung! Ohne die Vertreibung der Juden kein Fürth, und ohne Fürth vielleicht noch lange Jahre hin keine Eisenbahn in Deutschland! – –

Von Fürth trägt das Feuer-Roß mit der Schnelligkeit des Flugs vor die Thore der ehrwürdigen Stadt, die mit ihren rothen Dächern und zahllosen Thürmen aus einem trüben Dunstkreise der Ungeduld entgegen zu eilen scheint. Der Dampfwagen legt die Strecke in 8 Minuten zurück. Ehe man recht weiß, wie einem geschehen, sieht man sich schon in Nürnbergs Mauern.

Wer noch keine alte Stadt gesehen hat und in die Straßen von Nürnberg tritt, dem breitet sich eine ganz neue wunderliche Welt aus. Wie in einem Guckkasten die bunten Bilderbögen, drehen sich lebhafte Farben, roth, grün, blau, in wunderlichem Gemisch durch einander. Nichts Einerlei, keine Spur von Beschränkung und Vorschrift. Der Fremde sieht Patrizierpalläste neben des Handwerkers kleiner Wohnung und schmale, alte Häuserchen mit vorspringenden Giebeln und Erkern stehen nachbarlich vertraut neben dem Prachtgebäude des reichen Kaufmanns oder Fabrikherrn. Selbst das Unregelmäßige, Winkliche der Gassen fällt nicht unangenehm auf: denn es erhöht das Malerische derselben, und das Gepräge der Freiheit tragend, hat’s auch geistig eine anziehende Seite.

Wunderlich und charakteristisch sehen die hohen rothen Dächer aus, die meistens mit Thürmchen und altmodischen Wetterfahnen geziert sind, welche jeder Windstoß knarrend und schwirrend bewegt. Schönausgezierte Fenster und Thüren, geschnitzte Tragbalken, wunderliche Karyatyden, Basreliefs von Säulen und Figuren, alte Erker mit Sculpturen in gothischem und byzantinischem Styl, zum Theil von der kostbarsten Arbeit, fesseln das kunstliebende Auge bei jedem Schritte. Wappen in Stein und Metall prangen über den Thoren; in Nischen zwischen den Fenstern und Postamenten, oder an den Ecken zwischen den Stockwerken, stehen Statuen von Schutzheiligen, oder sind Bildwerke in Basrelief, manche von den besten Meistern der classischen Zeit eingemauert. Wie in der Natur, so erscheint auch an diesen alten Wohnungen der Reichsbürger Unregelmäßigkeit als das Grundprinzip aller Freiheit. An demselben Hause sind oft die Fenster von dreierlei Größe, die bald nah, bald weit von