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Die Tempel der Hindus machen, vermöge ihrer mannichfachen und leichten Formen, meistens einen sehr gefälligen Eindruck. Die schönsten und größten stehen an den Ufern des Ganges, und ihre vergoldeten Kuppeln gewähren von der andern Seite des Stromes einen imposanten Anblick. Gemeinlich schließen die Tempelgebäude einen innern Hof ein, einen Aufenthalt von Stieren des Siwa. Dies dreisten Thiere laufen auf jeden Eintretenden zu, um ihre gewöhnliche Gabe von Mais oder Zuckerbrod zu empfangen. Erhalten sie solche nicht sogleich, so schnuppern sie die Taschen aus und erlauben sich wohl auch, mit ihren Hörnern ihre Almosenforderung zu unterstützen. Rund um die Tempelhofe laufen Kreuzgänge, wie in unsern Klöstern, die angefüllt sind mit Büßenden beiderlei Geschlechtes, alle nackt vom Kopf bis zu den Füßen, und beschmiert über und über mit Kuhmist und Kreide. Sie schreien beständig: Ram! Ram! Ram! in gellenden, monotonen Klagetönen, daß einem die Ohren zerspringen möchten. Alle Tempel haben eine Crypte – ein unterirdisches Gewölbe mit Götzenbildern und Bad, – in welche durch Stollen das Wasser des heiligen Flusses geleitet wird. Hier verrichten die Andächtigen Fußwaschungen. An verschiedenen Stellen in den Pagoden hängen kupferne Schalen, in welche die Opfer niedergelegt werden. Auch Gefäße mit geweihetem Wasser des Ganges sind an den Pforten der Tempelhallen angebracht, und noch viele andere Symbole und Gebräuche leiten durch ihre frappante Aehnlichkeit mit der christlichen auf einen Ursprung der letztern hin, der den Forschern schon längst nicht mehr zweifelhaft war.

Daß an diesem Orte der religiöse Wahnsinn die gräßlichsten seiner Mysterien feiere, ist erklärlich. Das Selbst-Verbrennen der Weiber nach dem Tode ihrer Männer ist hier häufiger als irgendwo, und erst in den letzten Jahrzehenden hat der in die Massen gedrungene Strahl europäischer Aufklärung die Zahl dieser Selbstopfer etwas gemindert. Merkwürdig, und weit größer noch ist die Anzahl derer, die sich hier ertränken und keine Stelle des Stromes ist in dieser Beziehung berüchtigter, als die durch unser Bild bezeichnete. Große Schaaren von Pilgern, oft aus den entlegensten, Hunderte von Meilen entfernten Provinzen, kommen alljährlich einzig zu dem Zweck hierher, um ihrem Leben in den Fluthen ein Ziel zu setzen und ihre Seele dadurch zu retten. Die Ertränkungsweise ist eine ganz eigenthümliche und folgende. – Zwei am Boden durchlöcherte Thongefäße (sogenannte Ketschri-Vasen), werden unter jedem Arm befestigt. Also gerüstet, stürzt sich das Opfer in den Strom an einer sehr tiefen Stelle und von den hohlen Gefäßen getragen, läßt es sich treiben. Es stimmt eine Hymne an, bis nach und nach die Töpfe sich füllen und der fromme Sänger in den Fluthen auf immer verschwindet. Die brittische Regierung hat vergeblich alle Mittel der Aufklärung erschöpft, um diese furchtbar-zahlreichen Selbstmorde zu verhindern; aber Alles, was sie bis jetzt erzweckt hat, ist, daß die Ersäufungen nicht mehr bei Tage, sondern in der Nacht, oder in einiger Entfernung von der Stadt, an andern zu diesem Zwecke von den Priestern (die legalen Erben aller solcher Fanatiker!) geweihten Stromstellen stattfinden. Was vermögen auch Polizeimaaßregeln gegen den Fanatismus von Menschen, die die Strapatzen