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CLXI. Benares, die heilige Stadt der Hindus.




Nur zu geneigt ist der für Menschenwohl erglühende Geist, sich überspannten Vorstellungen vom allgemeinen Besserwerden zu überlassen. Eine mäßige Summe von Thatsachen umkleidet er mit dem weiten Prachtgewande seiner Wünsche, und er glaubt gern an Zustände, die er doch nur träumt. Darum ist’s gut, wenn sich ihm oft die Betrachtung einer grausamen Wirklichkeit aufnöthigt. Hüte er sich dann, zu dem entgegengesetzten Irrthum überzugehen: Unglauben für Leichtgläubigkeit zu tauschen, und zu verzweifeln an der Möglichkeit, daß die Welt werden könne, was sie werden wird im Laufe der Aeonen, eine Welt des Glücks und der Gerechtigkeit. Es liegt auch hier die vermittelnde und tröstende Wahrheit zwischen den beiden Extremen.

Sichtbar jedem verständigen Beobachter entwickeln sich in Asien vielfältige Keime einer glücklichen Revolution und in Osten aufzuckende Lichtstrahlen verkündigen ein zweites Erdumkreisen des Gestirns, das dem Orient einen heitern Tag der Gesittung verheißt. Doch ein Dämmern ist noch kein Tageslicht. Noch umhüllt Finsterniß den Welttheil. Die Hälfte seiner Bevölkerung ist wie ein versteinertes Menschenmeer; seit Jahrhunderten ist sie geistig todt, bewegungslos und in Fesseln gelegt durch unabänderliche Gesetze, Ausgeburten des raffinirtesten Despotismus. Entwürdigt und geblendet durch verjährte Vorurtheile, kriechender Sklave des Bambus, aller Aufklärung unzugänglich, lebt der Chinese nur ein maschinenmäßiges Daseyn; er ist eine Null in der Kulturentwicklung der Menschheit. – Der Tartar, umherschweifend, oder auf einen Ort geheftet, ist so roh und unwissend, als er immer gewesen. Der Araber, mit einem glücklichen Genie begabt, hat die Güter der Gesittung und des Wissens längst verloren; seit Jahrhunderten macht Barbarei sein Erbtheil aus. – Im Norden sehen wir blos niedrige Leibeigene, Völkerheerden, mit denen der große Eigenthümer sein Spiel treibt. Die Fahne der Kultur hängt zwar heraus; aber noch ist’s eine Fahne der Lüge. – Der Türke, Ausrotter einer schönen Gesittung in gesegneten Ländern, ist ein dürftiger Boden für das Gedeihen der neuen. – Rüstig rühren Britten in Indien Spaten und Pflug. Aber die Einsaat ist schwierig, das Keimen schwach, das Wachsen langsam. Hundert Millionen Indier, mit Vorurtheilen überhäuft, durch die geheiligten Bande ihrer Kasten eingeschnürt, leben in dumpfer, unheilbar scheinender Betäubung fort.

Das nebige Bild leitet uns auf den Schauplatz der merkwürdigsten Erscheinungen jener Verblendung, in deren Netzen sich Indiens Völker hülflos verstrickt haben, Betrügern und Fanatikern ein leichtes Spiel. Es