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LXXXXVIII. Der Berg Tabor.




Diese gefeierte Höhe steigt 3000 Fuß hoch aus der Ebne von Esdraelon in der Landschaft Galiläa als ein isolirter Kalksteinfelsen empor, welcher die Form eines Zuckerhuts mit abgebrochener Spitze hat. Wälder von Eichen und wilden Pistazien bekleiden seinen Fuß; die steilen Wände aufwärts sind kahles Gestein, hie und da mit niedrigem Gesträuch bewachsen. Den Gipfel macht ein Plateau aus, etwa eine halbe Stunde im Umfange. Er ist mit den schönsten, blumenreichen Matten überzogen, und Ueberreste von Klöstern, Kapellen und Einsiedeleien liegen zerstreut umher. – Ehe das Land unter türkische Herrschaft kam, sollen auf dieser Höhe 3000 Ordensgeistliche gewohnt haben. Noch sieht man viele Cisternen und die Spuren von mehr als 20 tief in den Felsen gegrabenen Brunnen; aber keine Menschenseele ist mehr zu finden. Wo sonst religiöse Gesänge erschallten und täglich Prozessionen den heiligen Orten zuzogen, da weiden wilde Ziegen und menschenscheue Antilopen.

Die Aussicht von dem Gipfel ist bezaubernd und die schönste in ganz Palästina. – Ringsum überschaut man das klassische Land des Urchristenthums, jene stille, heilige Gegend, wo der Heiland des Menschengeschlechts am häufigsten und am liebsten wandelte, und, zurückgezogen von dem Tumult der Welt, seiner großen Sendung dachte. – Im Süden und Westen dehnt sich die breite Ebene von Esdraelon (oder Jesreel) aus, fruchtbar aber verödet und an historischen Erinnerungen reich. Hier siegte Gideon gegen die Philister; hier unterlag nach furchtbarer Schlacht Juda (unter König Josias, der in derselben fiel,) den Aegyptern; hier kämpfte mit den römischen Legionen des Vespasian das empörte Israel; hier schlug Saladin der Große das Kreuzfahrerheer auf’s Haupt, und auf derselben Stelle, 600 Jahre später, Bonaparte mit 3000 Franzosen 25000 Türken, die Elite des Halbmondes. Graue Ruinen auf der grünen Ebene hin zerstreut, oder armselige Dörfer, bezeichnen die Orte, wo früher berühmte Städte: Rabboth, Jebulloth, Megiddon, Ramoth, Jesreel, Janoah etc. prangten. Den Raum zwischen dieser weiten Fläche und dem Tabor füllt eine Gruppe malerisch geformter und bewaldeter Hügel aus, zwischen denen sich tiefe, abgeschiedene Thäler mit üppigem Pflanzenwuchse hinziehen, der höchsten Kultur fähig, aber fast ohne Bewohner. Mitten in dieser reizenden Wüste liegt Nazareth, in einem Bergkessel, dessen Höhen man deutlich unterscheidet. Nach Osten hin streckt sich die Galiläische Ebene, eine Fortsetzung der von Jesreel, aus. Viele Dörfer und Flecken auf derselben deuten auf eine reichere Bevölkerung und höhere Kultur hin. Nain mit